Die Insel des Mondes
meinte, sondern von seinem eigenen verschollenen Vater sprach. Als sie sah, wie nervös ihr Vater an seiner Pfeife zog, erkannte sie plötzlich, wie viel Macht ihre Mutter aufgrund seiner Herkunft über ihn hatte. Er lebte mit der Schande, keinen Vater zu haben. Und nur für sie, für seine Tochter, hatte er es auf sich genommen, sich dem Zorn seiner Frau auszusetzen.
Paula starrte auf die bräunlich-schwarzen Egel, die sich mit ihrem Blut füllten und nun schon auf Männerdaumengröße angeschwollen waren. Allerdings waren sie immer noch klei ner als die Daumen ihres Vaters, der sehr große Hände gehabt hatte.
Es tat ihr heute noch leid, dass sie damals nicht ihrem Gefühl gefolgt war und sich in seine Arme geworfen hatte, um ihn irgendwie zu trösten und ihm zu danken. Aber derlei Gefühlsäußerungen waren in ihrer Familie nicht üblich, vor allem dann nicht, wenn ihre Mutter in der Nähe war. Florence war eine Meisterin der Selbstbeherrschung.
Wenn ich nur gewusst hätte, dass es mein letzter Geburtstag mit ihm sein würde, dachte Paula und seufzte, dann hätte ich es sicher getan. Und wieder einmal kam es ihr so vor, als wäre ihr Leben bisher nicht viel mehr als eine einzige Aneinanderreihung von »wenn« und »würde« und »hätte«.
Doch jetzt war sie in Madagaskar, um das zu ändern. Und dass sie hier war, verdankte sie ihrem Vater, der dafür gesorgt hatte, dass sie Mathildes Vermächtnis erhielt.
Damals hätte sich Paula am liebsten sofort in Mathildes Buch vertieft, aber ihre Mutter hatte andere Pläne für ihren Geburtstag gehabt, und so hatte sie ihre Ungeduld bis spät abends zügeln müssen.
Dann hatte sie sich heimlich eine Kerze angezündet, die Flakons ganz nach vorn auf ihre Kommode geräumt und die Glaswände ausgeleuchtet, um sicherzugehen, dass ihr auch nicht das kleinste Detail entging. Tatsächlich hatte sie in den Flakons, die wie Lapislazuli schimmerten, eine bräunliche Kruste mit goldfarbenen Splittern entdeckt, glitzernd wie Kandiszucker. Danach hatte sie vorsichtig eine der Ballonpumpen in die Hand genommen, es war ein hellgrauer kleiner Gummiball, der mit Quasten aus silberfarbener Seide überzogen war. Mit klopfendem Herzen hatte sie darauf gedrückt und vor lauter Spannung die Luft angehalten. Sie wusste selbst nicht genau, was sie erwartet hatte, eine Art von Verzauberung, etwas Magisches. Doch die Ballonpumpe gab nur einen peinlichen Laut von sich, der ihre Brüder entzückt hätte, das war alles. Deshalb hatte sie die Flakons aufgeschraubt und dann an jedem einzelnen Zerstäuber geschnuppert, und es war ihr so vorgekommen, als ob die drei Flakons alle gleich merkwürdig gerochen hätten. Damals hatte sie noch keine Worte für Düfte gehabt.
Ein bisschen enttäuscht hatte sie nach dem ledergebundenen Buch ihrer Großmutter gegriffen, den dicken, fleckigen Einband aus weichem rotem Saffianleder betastet. Ihr gefiel der Gedanke, dass ihre Großmutter es auch schon in ihren Händen gehalten hatte. Das rote Leder war nicht nur fleckig, es roch auch ein bisschen salzig und so, als ob es lange der Feuchtigkeit ausgesetzt worden wäre. Voller Spannung hatte sie den Deckel aufgeklappt.
Mathildes elegantes Kabinett der Wohlgerüche
Vorzügliche Nachrichten aus der Welt der Düfte
Strasbourg, den 7. Februar 1 8 1 7
stand da in einer kühn geschwungenen Handschrift auf dem Vorsatzblatt. Sie schlug die Seite um und wünschte sich in ständig, der Titel wäre nur die Tarnung für das Tagebuch ihrer Großmutter.
Die Gewichte aller Länder im Vergleich zu den Kilogrammen bei uns in Frankreich:
Abessinien: 1 Rottel zu 1 2 Wakihs zu zehn Drachmen 0, 3 1 1
Entspricht 0,337 Kilogramm
Afghanistan: 1 Mahn zu 4 Oka zu 1 000 Miskal
Entspricht 4,18 Kilogramm
Ägypten: 1 Cantaro forfono 36 Oka oder
100 Rottoli zu 144 Drachmen = 44,5–50,0;
1 Oka zu 400 Drachmen
Entspricht 1,236 Kilogramm
Es folgten Argentinische Republik, China, Dänemark, Grie chenland, Haiti, Japan, Kreta, Liberia, Montenegro, Ostindien, Paraguay, Persisches Reich, Russland, Siam, Tripolis, das Osmanische Reich, Tunis und Uruguay. Auf der nächsten Seite wurden die Hohlmaße der Länder im Vergleich zum Liter abgehandelt, und so enttäuscht Paula auch über diese Sachinformationen war, so sehr versetzten sie allein die Namen der Länder in Aufregung, sie hatte weder von Abessinien noch von Uruguay jemals gehört. Am liebsten hätte sie gleich das ganze Buch durchgelesen, aber dann entschied sie, es nicht zu tun.
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