Die Insel Des Vorigen Tages
Mein lieber Roberto de La Grive - sagte er sich - du bist hier allein, und du könntest es bleiben bis ans Ende deiner Tage, und es könnte auch sein, daß dieses Ende gar nicht mehr fern ist: Die Vorräte an Bord sind zwar reichlich, aber für Wochen, nicht für Monate. Also geh lieber rasch hin und stell Gefäße auf, um soviel Regenwasser wie möglich aufzufangen, und lerne, vom Schiff aus Fische zu fangen, auch in der glühenden Sonne. Und eines Tages, früher oder später, wirst du auch einen Weg finden müssen, auf die Insel zu gelangen, um dort als ihr einziger Bewohner zu leben. Das ist es, woran du denken solltest, nicht an Geschichten von verborgenen Eindringlingen und bösen Brüdern
...
So hatte Roberto sich aufgemacht, um Eimer und leere Fässer zusammenzusuchen und sie auf dem Achterdeck zu verteilen. Das durch die Wolken gefilterte Licht war erträglich gewesen, doch er hatte bei der Arbeit gemerkt, daß er noch ziemlich schwach war. Trotzdem war er nochmals hinuntergestiegen, um den Vögeln Wasser und Körner zu geben (vielleicht damit kein anderer sich versucht fühlte, es an seiner Stelle zu tun), hatte abermals darauf verzichtet, noch weiter in den Schiffsbauch hinunterzusteigen, war zurückgegangen und hatte einige Stunden im Liegen verbracht, während der Regen weiter an die Scheiben klatschte. Ein paar Windstöße kamen auf, und zum erstenmal wurde Roberto bewußt, daß er sich auf einem schwimmenden Körper befand, der sich jetzt wie eine Wiege bewegte, während ein Schlagen von Türen die ausladende Masse dieses hölzernen Mutterschoßes belebte.
Er fand Gefallen an dieser letzten Metapher und fragte sich, wie wohl Pater Emanuele das Schiff als Quelle für Enigmatische Wahlsprüche gelesen hätte. Dann dachte er an die Insel und definierte sie als Unerreichbare Nähe. Der schöne Begriff demonstrierte ihm, zum zweiten Male an jenem Tage, die Unähnliche Ähnlichkeit zwischen der Insel und der Signora, und er blieb wach bis in die Nacht, um ihr zu schreiben, was ich in diesem Kapitel zu entziffern versucht habe.
Die Daphne stampfte und rollte die ganze Nacht lang, und erst gegen Morgen legte sich ihre Bewegung, zusammen mit jener der Wellen. Roberto sah aus dem Fenster die Zeichen einer kühlen, aber klaren Morgendämmerung. Er dachte an jene »Hyperbel der Augen«, die er sich am Vortag in Erinnerung gerufen hatte, und sagte sich, daß er die Küste ja auch mit dem Fernrohr betrachten könnte, das er in der Kajüte nebenan gesehen hatte: Die Abschirmung der Linse und das begrenzte Gesichtsfeld würden das Sonnenlicht ausreichend dämpfen.
Er stützte also das Instrument auf die Kante eines Fensters zur Galerie und fixierte kühn die äußeren Ränder der Bucht. Die Insel erschien klar und deutlich, der Gipfel zerzaust von ein paar Wollflocken.
Wie er auf der Amarilli gelernt hatte, halten die Inseln des Ozeans die Feuchtigkeit aus den Passatwinden fest und verdichten sie zu nebligen Flocken, so daß die Seefahrer oft die Nähe eines Landes, noch bevor sie die Küste sehen, an den Dunstschleiern erkennen, die über ihm stehen, als ob sie in ihm verankert wären.
Von den Passatwinden hatte ihm Doktor Byrd erzählt - der sie trade-winds nannte, während die Franzosen alisies sagten: Es gibt auf jenen Meeren die großen Winde, die über die Hurrikane und die Flauten gebieten, doch mit denen scherzen die Passatwinde, die kapriziöse Winde sind, weshalb die Seekarten ihr Umherschweifen als einen Tanz von Kurven und Strömungen, von närrischen Kringeln und graziösen Verirrungen zeigen. Sie drängen sich in den Lauf der größeren Winde ein und bringen ihn durcheinander, durchqueren ihn und flechten eigne Läufe hinein. Sie sind Eidechsen, die auf unvorhergesehenen Pfaden huschen, sie stoßen miteinander zusammen oder weichen einander aus, als gälten im Meer des Entgegengesetzten nur die Regeln der Kunst und nicht die der Natur. Von den künstlichen Dingen haben sie die Natur, und ihre Form nehmen sie weniger von den harmonischen Ausformungen der natürlichen Dinge, wie dem Schnee oder den Kristallen, als von jenen Voluten, welche die Architekten den Kuppeln und Kapitellen aufgeprägt haben.
Daß dies ein Meer der Künstlichkeit war, hatte Roberto schon lange geargwöhnt, und das erklärte ihm, warum die Kosmographen sich hier unten immer widernatürliche Wesen vorgestellt hatten, die kopfunten gingen.
Gewiß konnten es nicht jene Künstler gewesen sein, die an den europäischen Höfen
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