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Die Insel Des Vorigen Tages

Die Insel Des Vorigen Tages

Titel: Die Insel Des Vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Doch ich will Euch nicht belügen, meine Herren, ich habe nicht zufällig gerade ZWERG
    gewählt: Gerade erst letzte Nacht hatte ich mich mit großer Gründlichkeit darangemacht, alle Möglichkeiten dieser Substantia herauszuarbeiten.«
    Er schwenkte einen Bogen und begann, die Metaphern und Definitionen der Winzigkeit vorzulegen, mit denen er seinen armen Zwerg erdrückte: Männlein, das noch kürzer ist als sein Name; Homunkulusteilchen, neben dem die Staubteilchen, die mit dem Licht durchs Fenster eindringen, groß erscheinen; Körnchen, das mit Millionen seinesgleichen im Hals einer Sanduhr die Stunden anzeigen könnte; Körperbau, bei dem die Füße dem Kopf am nächsten stehen; karnales Segment, das beginnt, wo es endet; Linie, die sich in einem Punkte zusammenballt; Nadelspitze; Subjekt, mit dem man vorsichtig sprechen muß, damit es der Atem nicht weghaucht; Substanz, so klein, daß keine Farbe auf ihr haftet; Körperchen, das nichts mehr und nichts weniger hat als das, was es nie hatte; formlose Materie, stofflose Form, körperloser Körper, reines Vernunftwesen, Erfindung des Geistes, so gewappnet durch ihre Winzigkeit, daß kein Schlag sie je treffen kann, fähig zur Flucht durch jede Ritze und imstande, sich ein ganzes Jahr lang von einem einzigen Gerstenkorn zu ernähren; Wesen, so komprimiert, daß man nie weiß, ob es sitzt oder liegt oder steht, und das in einem Schneckenhaus zu ertrinken vermag, Samenkorn, Senffünkchen, i-Punkt, mathematisch Unteilbares, arithmetische Null ...
    Und er hätte noch lange so weitergemacht, hätten die Zuhörer ihn nicht mit einem Applaus unterbrochen.
    Reformierte Land- und Gewässerkunde
    Roberto verstand jetzt, daß Pater Emanuele im Grunde so vorging, als ob er ein Anhänger Demokrits und Epikurs wäre: Er akkumulierte Atome von Sinnfiguren und setzte sie in verschiedener Weise zusammen, um daraus vielerlei Gegenstände zu bilden. Und wie der Kanonikus von Digne die Ansicht vertreten hatte, daß eine aus Atomen gemachte Welt nicht im Gegensatz zur Idee einer Gottheit stand, die diese Atome nach Maßgabe der Vernunft zusammenfügte, so akzeptierte Pater Emanuele aus jener Staubwolke von Sinnfiguren nur die wirklich geistvollen Bilder. Vielleicht wäre er genauso vorgegangen, wenn er sich aufs Erfinden von Theaterszenen verlegt hätte: Ziehen nicht die Stückeschreiber unwahrscheinliche Ereignisse voller Geist und Witz aus Kombinationen von zwar wahrscheinlichen, aber witzlosen Dingen, um uns mit unerwarteten Handlungseffekten zu ergötzen?
    Aber wenn dem so war, lag dann nicht bloß jenes Zusammentreffen von Umständen vor, das sowohl seinen Schiffbruch wie seine gegenwärtige Lage auf der Daphne verursacht hatte? Während jedes winzige Vorkommnis wahrscheinlich war - der Modergeruch und das leise Knarzen der Schiffsplanken ebenso wie der frische Duft der Pflanzen und das Gezwitscher der Vögel -, erzeugte alles zusammen den Eindruck einer Präsenz, der vielleicht nichts anderes war als der Effekt einer bloß vom Geist wahrgenommenen Phantasmagorie, ganz so wie das Lachen der Wiesen und die Tränen des Taus?
    Demnach wäre das Phantasma eines verborgenen Eindringlings nur die Kombination von Handlungsatomen, ganz so wie das des verschollenen Bruders, beide geformt aus Teilen seiner eigenen Gesichtszüge und seiner Wünsche oder Gedanken.
    Und als Roberto nun erste Tropfen eines leichten Regens an die Fenster klopfen hörte, der die Mittagshitze ein wenig abkühlen ließ, sagte er sich: Natürlich ist es so, ich bin der Eindringling auf diesem Schiff und nicht der andere, ich störe hier die Stille mit meinen Schritten, und deshalb, gleichsam aus Angst, das Heiligtum eines anderen verletzt zu haben, habe ich mir ein anderes Ich konstruiert, das hier zwischen denselben Wänden umhergeht. Welchen Beweis habe ich denn, daß jener Andere existiert?
    Ein paar Wassertropfen auf ein paar Blättern? Könnte es nicht in der letzten Nacht geregnet haben, so wie jetzt, sei’s auch nur wenig? Die Körner? Könnten die Vögel nicht die schon vorhandenen Körner so zusammengescharrt haben, daß ich dachte, jemand habe neue hingeschüttet? Das Fehlen der Eier? Wo ich doch gestern selber gesehen habe, wie ein Falke eine Fliegende Maus verschlang! Ich bevölkere in Gedanken einen Kielraum, den ich noch gar nicht aufgesucht habe, und das tue ich vielleicht nur, um mich zu beruhigen, da mich der Gedanke erschreckt, hier mutterseelenallein und verlassen zwischen Himmel und Meer zu sein.

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