Die Insel Des Vorigen Tages
geordneten Schiffen der Kirchen in Casale abgehoben. Jetzt begriff er, warum: Es war, als wäre das Gewölbe jener Kirche ein südlicher Himmel gewesen, der dem Auge Lust machte, immer neue Fluchtlinien auszuprobieren, ohne sich je auf einem Mittelpunkt auszuruhen. Unter jener Kuppel war man sich, wenn man zu ihr hinaufschaute, gleichgültig, wo man stand, immer am Rand vorgekommen.
Roberto machte sich jetzt bewußt, daß er jenes Gefühl einer verweigerten Ruhe weniger deutlich, weniger theatralisch, dafür aber praktisch erfahren durch kleine Überraschungen von Tag zu Tag, erstmals in der Provence und dann in Paris gehabt hatte, wo ihm jedermann ständig eine Gewißheit zerstört und eine mögliche Art und Weise gezeigt hatte, wie man die Karte der Welt neu zeichnen konnte, ohne daß sich jedoch die Anregungen, die er von allen Seiten erhielt, zu einem fertigen Bild fügen wollten.
Er hatte von Maschinen gehört, die imstande waren, die Ordnung der Naturphänomene so zu verändern, daß Schweres nach oben strebte und Leichtes nach unten fiel, daß Feuer benetzte und Wasser verbrannte, als könnte der Schöpfer des Universums höchstselbst sich korrigieren und womöglich die Pflanzen und Blumen zwingen, sich gegen die Jahreszeiten zu behaupten, und die Jahreszeiten, einen Kampf mit der Zeit aufzunehmen.
Wenn aber der Schöpfer zu einem Sinneswandel bereit war, gab es dann noch eine Ordnung, die Er dem Universum auferlegt hatte? Vielleicht hatte Er ihm seit Anbeginn vielerlei Ordnungen auferlegt, vielleicht war Er bereit, sie Tag für Tag zu verändern, vielleicht gab es eine geheime Ordnung, die diesem unaufhörlichen Wandel der Ordnungen und Perspektiven unterlag, aber es war uns nicht bestimmt, sie je zu entdecken, wir folgten eher dem Wechselspiel jener Schein-Ordnungen, die sich mit jeder neuen Erfahrung neu bildeten.
Womit dann die Geschichte von Roberto de La Grive nur die eines unglücklich Verliebten wäre, der dazu verurteilt war, unter einem übertriebenen Himmel zu leben, und der nicht mit der Idee zurechtkam, daß die Erde sich auf einer elliptischen Bahn bewegt, in welcher die Sonne nur einer der beiden Mittelpunkte ist.
Was nun wirklich, wie mir wohl die meisten zustimmen werden, zu wenig ist, um daraus eine Geschichte mit einem Anfang und einem Ende zu machen.
Schließlich würde ich, wenn ich aus dieser Geschichte einen Roman hervorgehen lassen wollte, damit nur ein weiteres Mal beweisen, daß man nicht anders schreiben kann, als indem man das Palimpsest einer wiedergefundenen Handschrift verfertigt - ohne sich je der Angst vor dem Einfluß entziehen zu können.
Und ich würde auch nicht der kindischen Neugier des Lesers entgehen, der dann würde wissen wollen, ob Roberto die Seiten, mit denen ich mich so ausführlich beschäftigt habe, auch wirklich geschrieben hatte. Ehrlicherweise würde ich antworten müssen, daß sie auch ein anderer geschrieben haben könnte, der womöglich nur so tun wollte, als ob er die Wahrheit sagte. Und so würde ich den ganzen Effekt des Romans ruinieren - bei dem man zwar immer so tun muß, als ob man wahre Dinge erzählt, aber niemals ernsthaft sagen darf, daß man nur so tut.
Und ich wüßte nur auch nicht auszudenken, durch welche letzte Verkettung von Ereignissen Robertos Briefe in die Hand dessen gelangt wären, der sie mir hätte übergeben müssen, indem er sie aus einem Bündel anderer ausgewaschener und zerkratzter Autographen hervorzog.
»Der Autor ist unbekannt«, würde ich allerdings erwarten, daß er mir sagte, »die Handschrift ist anmutig, aber verblaßt, wie Sie sehen, und die Blätter sind nur noch eine verklebte Masse. Was den Inhalt betrifft, nach dem wenigen, was ich habe entziffern können, sind es manieristische Stilübungen. Sie wissen ja, wie man damals schrieb ... Das waren Leute ohne Seele.«
Inhalt
Kapitel 1 - Daphne
Kapitel 2 - Von denen Begebenheiten im Montferrat
Kapitel 3 - Das Serail der Überraschungen
Kapitel 4 - Demonstrierte Befestigung
Kapitel 5 - Das Labyrinth der Welt
Kapitel 6 - Große Kunst des Lichts und der Schatten
Kapitel 7 - Pavane, Lachryme
Kapitel 8 - Die Kuriose Lehre der Schöngeister jener Zeit
Kapitel 9 - Das Aristotelische Fernrohr
Kapitel 10 - Reformierte Land- und Gewässerkunde
Kapitel 11 - Die Kunst der Weltklugheit
Kapitel 12 - Die Leidenschaft der Seele
Kapitel 13 - Die Karte der Zärtlichkeit
Kapitel 14 - Traktat der Wissenschaft von den Waffen
Kapitel 15 - Horologica
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