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Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Titel: Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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zugleich die Halbwelt des Freudenviertels Yoshiwara ist). Wir bewegen uns darin – und werden davon bewegt – wie der Regen, der das Große Tor der Erzählung verschleiert. Oder wie die Erde selbst, deren Feuerflüssigkeit in Japan häufiger als anderswo durch ihre Oberfläche dringt. Das gleitende Verhältnis von Wahrheit und Lüge wird hinfällig vor dem Scheincharakter aller Dinge. Und doch nimmt dieser ihrer Gefühlswahrheit nichts weg. Die Täuschung im Auge des Betrachters hindert ihn nicht daran, sie, wie Kurosawa selbst, mit bewegten, bewegenden Bildern zu beglaubigen. Das Ende von Rashōmon bezeugt aber auch: Die umfassende Täuschung der Dinge entbindet uns nicht von unserem Mit-Gefühl, ja, sie ist der wahre Grund für eine ebenso umfassende Menschlichkeit. Schon das Genji monogatari, das größte Werk der japanischen Literatur, überläßt sich allen möglichen Widersprüchen – nicht nur im Charakter seiner Personen, sondern auch in der Verbindlichkeit von Zeit und Ort. Diese Widersprüche haben nichts damit zu tun, daß die Dichterin (wie es Homer in solchen Fällen nachgesagt wurde) »geschlafen« hätte. Sie ist wach für eine Wirklichkeit, welche die Optik des Scheins, den sie liebevoll und traurig feiert, überschreitet. Sie vertieft sich in den Traum, daß alles gleich gültig und nichts gleichgültig sei. Die Welt wird in diesem Traum, was sie von Haus aus ist: ein Bild.
      Nur das? fragt die Melancholie. Nichts Geringeres, antwortet das Erstaunen.

    Doppelagent in Dejima

    Rede an einen Japanologen-Kongreß

      In den letzten Wochen bin ich öfters in Sachen Japan gereist und habe meine kultur-komparatistischen Vermutungen angestellt, bei denen die subjektive Sicht vorausgesetzt (und geschenkt) war. Ich bin vor Laien als einer der ihren aufgetreten, allenfalls mit dem Jagdschein des Schriftstellers ausgestattet, aber nicht – in meinen Augen am allerwenigsten – mit dem Diplom des soliden Ethnologen. Als ich mutwillig zusagte, vor gelernten Japanologen aufzutreten, hoffte ich, mich mit einer Autorenlesung aus der Affäre zu ziehen, also eine Form zu wählen, die meinem Nicht-Wissen am ehesten eine sokratische Wendung zu geben versprach. Literatur liefert ihre Sätze ja von Haus aus in Frage-Form ab; ihr Anspruch ist frecher und bescheidener als derjenige des Sachtextes. Sie konstituiert ihren Gegenstand erst durch die Gestalt, die sie ihm geben kann. Und es darf als ausgemacht gelten, daß, wenn von Japan die Rede ist, die Ähnlichkeit mit einem Land gleichen Namens zwar nicht – wie die bekannte salvatorische Klausel lautet – »zufällig« oder gar »unbeabsichtigt« ist, aber doch eine andere Art von Notwendigkeit besitzt; eine, die der Autor nur mit seiner Wahrheit begründen kann und dabei das Interesse für di ese beanspruchen muß. Etwas, das, im Sinne Max Frischs, nur erlaubt ist, wenn es gelingt.
      So hatte ich mir bei den Veranstaltern dieses Kongresses bereits einen Freibrief für fahrlässiges Verhalten abgeholt – als ein boshafter Engel wollte, daß ich letzte Woche die große Berliner Ausstellung »Japan und Europa 1543-1929« gesehen habe. Erfüllt und erschlagen, wie ich davon bin, gebot mein reformiertes Zürcher Gewissen, mir die Sache hier, aller Zeit Not zum Trotz, doch etwas saurer zu machen. Viele von Ihnen werden dieses Schatzhaus vergleichender Künste noch besuchen und deutlicher als ich sehen, daß die so plastisch ausgestellten Antworten zu immer noch größeren Fragen führen. Was ich hier tun kann: Ihnen einige der Fragen vorlegen, die mir dort gekommen sind und denen ich Ihre Nachfrage wünsche. Sich laut zu wundern ist ebenso das Privileg der Kinder wie die Pflicht der Weisen. Im Niemandsland dazwischen nehme ich mir die Freiheit heraus, Ihre Kompetenz zu reizen und mit Ihnen vor dem Bild der bekannten künstlichen Insel stehenzubleiben: Wie war das mit Dejima –?
      Ihnen brauche ich Geschichte und Vorgeschichte dieser Isolierstation im Hafen des Fischerdorfs Nagasaki nicht zu erzählen. Was mich hier interessiert: daß ihre Wirksamkeit von Anfang an auf dem Typus des Doppelagenten beruhte. Die auf der Insel zernierten Männer der Vereinigten Ostindischen Kompagnie waren für jede Bewegung nicht nur auf die prinzipielle Erlaubnis des Shogunats angewiesen, sondern noch mehr auf die konkrete Kompetenz des Dolmetschers. Er ist die Schlüsselfigur des zwischenkulturellen Verkehrs. Aber noch mehr als der Ausländer ist seine eigene Behörde auf ihn

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