Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans
zusammen, in dem sie auch im menschlichen System vorkommt: aus Halbheiten, Zweifeln, Widersprüchen, Doppeldeutigkeiten. Wen wundert’s, daß dieses System nicht nur intelligenter ist, sondern, unter dem Strich, auch noch besser rechnet? Es vermeidet Kurzschlüsse, rein formalistische Lösungen, übt Geduld, hütet sich also vor dem »scheinbaren Einpfählen der scheinbaren Sache« (Kafka). Seine Fehlerfreundlichkeit macht es flexibler, realistischer als jedes Schema, das auf Alternativen programmiert ist und sie mit keinem Faktor X zu modifizieren versteht. Das heißt: mit dem »menschlichen« Faktor. Der Vorsicht gegen die eigenen Prämissen. Der Höflichkeit gegenüber dem ausgeschlossenen Dritten, dem »Andern«, Unvorhergesehenen, Undenkbaren.
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Dem westlichen Besucher kann die Kultur des Offenlassens als »Entscheidungsschwäche« begegnen, als oft skurrile Komplikation des sozialen Lebens. Kürzlich erzählte mir ein japanischer Germanist – ein humorvoller Mann –, daß er sich, als Übernachtungsgast in einem deutschen Haus, vor dem Frühstück fürchte, denn da komme unweigerlich die Frage auf ihn zu: Tee oder Kaffee? In Japan würde ihm die Qual des Ratens, was der Gastgeber von sich aus wohl trinken würde, dadurch erspart, daß einfach das eine oder andere auf den Tisch käme. Der Gastgeber zöge dann aus den unmerklichsten Zeichen den Schluß, daß dem Gast doch das andere lieber gewesen wäre als das eine, und warte spätestens am anderen Morgen mit beidem auf. In der Regel stehe es aber schon jetzt im Hinterhalt bereit und warte nur darauf, unter einem Vorwand, der den Gast aus dem Spiel lasse, aufgetragen zu werden. Im übrigen hänge alles vom Grad der Vertrautheit ab. Sei sie erst hergestellt (etwa durch die genannte Aufmerksamkeit), habe es auch mit Entweder-Oder-Fragen keine Not mehr.
Schon wieder: Was »Sache ist«, darüber entscheidet die Atmosphäre der Beziehung. Japanische Freunde, die bei westöstlichen Handelsabschlüssen dolmetschen, erzählen, daß es dabei auch nicht ganz anders zugehe. Unterschriften »machen sich von selbst«, wenn das emotionale Feld aufgebaut ist. Abrupt »zur Sache« zu kommen ist also im Umgang mit Japanern keine gute Strategie. Der zuerst respektvolle, dann menschlich gelockerte Kontakt gehört zur Sache. Im Alltag ist er ihr wichtigstes Teil.
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Ich habe erlebt, daß man in Japan eher ein Mißverständnis kultiviert, als einen Beziehungsabbruch zu riskieren. Ich fragte in einem Blumengeschäft nach der Haltestelle einer bestimmten Straßenbahnlinie (damals fuhren noch Straßenbahnen in Kyoto). Der Verkäufer hatte mich nicht gut verstanden, aber dieses Eingeständnis wäre ihm sehr unhöflich erschienen. Daher führte er mich draußen dreimal um den Platz herum, der mit einer Vielzahl von Haltestellen bestückt war, in der Hoffnung, mein Problem löse sich auf diese Weise von selbst. Jedenfalls tat er das mindeste, was er tun konnte: Er ließ mich damit nicht allein. Als die gewünschte Straßenbahn wirklich vorfuhr, zeigte sich: sie hielt genau vor seinem Geschäft. Ich sah seine Enttäuschung, als ich lachend einstieg: wahrscheinlich wäre ich ihm dabei mehr Umstände schuldig gewesen, aber welche? So ließ ich ihn zwar erleichtert, aber auch beschämt zurück.
Max Frisch verdanke ich eine schöne japanische Reisegeschichte: Der junge Germanist, der ihn führte, sprach ihn wiederholt auf Schiller an; »mein Schiller« sagte er sogar. Da war der Gast natürlich verpflichtet, sich mit dem Begleiter immer wieder über Schiller zu unterhalten. Am Ende der Reise schien die Frage nicht mehr unhöflich, was den Japaner an Schiller interessiere. – Eigentlich nichts, gestand dieser, aber er, Herr Frisch, interessiere sich doch so sehr für Schiller. – Eigentlich auch nicht, mußte Frisch zugeben. Es gelang, das Mißverständnis aufzuklären: daß sein Begleiter ursprünglich keineswegs »meinen Schiller«, sondern »meine Schüler« gemeint hatte. Ein kleiner Umlautfehler mit anhaltenden Folgen für eine ganze Reise. Ein Anlaß zum Harakiri für den Japaner, wenn er inzwischen nicht die Freiheit gewonnen hätte, mit dem berühmten Gast zu lachen. Schiller, auch wenn er nie gemeint gewesen war, hatte seinen Dienst getan –
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Die rätselhafteste Geschichte hat mir vor 20 Jahren eine japanische Studentin anläßlich ihrer Verlobung erzählt.
Der junge Mann war ein Studienkollege ihres Bruders, der (wie sie selbst) längere Zeit im
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