Die Inselvogtin
Gesicht schienen heute noch tiefer in der ledrigen Haut zu liegen, die buschigen, fast weißen Brauen zogen sich über der Nase zusammen.
»Deiner Mutter wird nicht viel Zeit bleiben. Aber ich habe soeben eine ganze Weile mit ihr reden können.«
»Worüber, Pastor?«
»Ich mache mir schon lange Gedanken, was mit dir gesehen soll, wenn sie einmal nicht mehr ist.«
Maikea wusste nicht, was sie sagen sollte. Wortlos folgte sie seinen langsamen Schritten Richtung Loog.
»Maikea, du weißt schon, dass du mir besonders ans Herz gewachsen bist?«
Die Stimme des Pastors hatte denselben Klang, den sie an Feiertagen in der Kirche annahm. Das gefiel Maikea nicht. Sie war es gewohnt, dass er auf den gemeinsamen Inselrundgängen mit ihr sprach wie zu einer Tochter. Auch wenn Maikea ihren leiblichen Vater nie kennengelernt hatte, malte sie ihn sich so aus wie Pastor Altmann, nur jünger und stattlicher natürlich. Ein Mann, der ihr das Leben erklärte, der von der Vergangenheit sprach und seine Lehren für das Heute daraus zog.
Was hatte er ihr nicht alles beigebracht! Warum die Inseln bei Sturmfluten so angreifbar und welche Dünen besonders gefährdet waren. Zudem hatte er sich ein paar holländische Schriften kommen lassen, in denen von neuen Ideen für den Inselschutz die Rede war: Angeblich sollten gezielte Pflanzarbeiten und geflochtene Zäune aus Reisig dabei helfen, die Insel zu schützen. Gern hätte der Pastor dies auch auf Juist ausprobiert, aber kein Insulaner war zu überzeugen gewesen. Niemand wollte sich im Frühjahr und Sommer mit solch mühsamer Plackerei quälen, wenn das Meer doch nur im Herbst und Winter zu wüten begann.
Eigentlich war dies ohnehin die Aufgabe des Inselvogtes, doch der Nachfolger ihres Vaters war, was den Inselschutz anging, ein Taugenichts. Das jedenfalls behauptete Pastor Altmann immer. Er fühlte sich daher für den Inselschutz zuständig und vernachlässigte sogar öfter seine Pflichten als Gottesmann. An manchem Sonntag gab es keine Predigt, weil er damit beschäftigt war, die Sturmschäden der letzten Nacht zu flicken. Oder er predigte statt aus der Heiligen Schrift die wichtigsten Regeln zur Inselsicherung. Mit seinen Schülern suchte er den Lobpreis auf Gottes Schöpfung nicht in den Psalmen, sondern lieber an der Westseite der Insel, wo neuer Strandhafer gepflanzt werden musste. Der Strandhafer war eine seltsame Pflanze, die es liebte, wenn der Wind wehte und der Boden nur Sand, Salz und Wasser hergab. Der Pastor setzte den Strandhafer bündelweise in kleine Dünensenken in der Nähe des Hammrichs. Maikea schaute ihm dabei über die Schulter und beobachtete jeden seiner Handgriffe. Und obwohl sie noch keine zwölf Jahre alt war, leistete sie schon gute Arbeit. Während die anderen Mädchen davon träumten, eines Tages Mutter oder vielleicht auch die wohlhabende Frau eines Schiffers zu werden, verfolgte Maikea ein anderes Ziel: Sie wollte die Insel erhalten. Nicht, indem sie das Meer bekämpfte, sondern vielmehr, indem sie es zu überlisten versuchte. Wäre das nicht eine erfüllende Aufgabe?
Als sie gerade die höheren Randdünen erklommen hatten, blieb Maikea stehen.
»Warum kann denn nicht alles so bleiben, wie es ist?«
»Nichts bleibt, wie es ist. Das wäre gegen die Natur.« Pastor Altmann atmete schwer. Das Erklimmen der Dünen bereitete dem alten Mann immer größere Schwierigkeiten. Ein Rasseln und Summen kam aus seinem Hals.»Können wir uns einen Moment setzen?«
Vorsichtig ließ er sich im Sand nieder. Maikea setzte sich neben ihn und rückte nach kurzem Zögern dicht an ihn heran, so wie sie es schon immer gern getan hatte.
»Schau dich um, Maikea. Das Leben bedeutet Veränderung. Jetzt haben wir auflaufendes Wasser, und der Sand wird von Stunde zu Stunde schmaler, bis unsere Insel wieder in zwei Teile geteilt ist. Dann setzt die Ebbe ein und gibt den Weg an die Bill wieder frei. Wenn man die Zeit hätte, sich einen ganzen Tag hier niederzusetzen, dann würde man die Veränderung, die dieser Ort immer und immer wieder erfährt, genau beobachten können.«
»Ja, aber das sind doch die Gezeiten, Pastor. Die kann jedes Kind ausrechnen. Je nachdem, wie der Wind steht und der Mond bei Nacht in Erscheinung tritt, weiß man, wie es auf dem Hammrich aussieht. Da verändert sich was für kurze Zeit, aber für die Ewigkeit gesehen bleibt es eben doch so, wie es ist.«
»Du bist wirklich die klügste Elfjährige, die mir je die Welt erklärt hat.« Pastor Altmann
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