Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Inselvogtin

Die Inselvogtin

Titel: Die Inselvogtin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
Vom Netzwerk:
verlassen, und das womöglich für immer. Maikea trauerte um ihre Mutter, und auch den Tod von Geeschemöh hatte sie noch nicht verwunden. Aber der drohende Abschied von der Insel war das Schwerste, was ihr je auf dem Herzen gelegen hatte. Auf Juist kannte sie jeden Weg, jede Düne, jeden Strauch. Sie konnte die Melodie des Westwindes nachsummen, wenn er nachts um das Haus wehte. Ihre Tage waren stets eng verbunden mit dem Takt der Gezeiten. Und das alles sollte sich heute ändern?
    Maikea blinzelte zum Horizont und konnte am südöstlichen Horizont die Türme einer Kathedrale erkennen. Die Ludgerikirche zu Norden, ein Monument so hoch wie der Himmel, erzählte man sich. Die Orgel würde golden glänzen und verzauberte Töne besitzen. Vogelsingen und Zimbelstern, Höllenspektakel und Engelszungen, all das konnte man dort in diesem Gotteshaus angeblich hören. Und trotzdem war ihr die kleine Inselkirche mit den krummen Steinen und den unbequemen Holzbänken lieber.
    Die Stadt Esens und das Waisenhaus, in dem sie bereits heute die erste Nacht verbringen sollte, erschienen ihr unglaublich weit weg. Schon die nächstgelegenen Festlandsstädte Norden und Emden kamen Maikea unerreichbar vor.
    Sie starrte auf das geschnürte Bündel zu ihren Füßen. Ein zweites Kleid zum Wechseln, ein wenig Wäsche, ein Paar Winterstiefel. Mehr würde sie nicht brauchen, hatte die Nachbarin gemeint, als sie Maikea beim Packen geholfen hatte. Beschweren dürfe man sich nicht, wenn die Fürstin höchstpersönlich einen unter ihre Fittiche nehme. Mit fast zwölf Jahren noch lernen zu dürfen sei eine Ehre, vor allem für ein Mädchen. Vielleicht habe sie ja Glück und könne später auch Kammerfräulein werden. Die vornehme Gestalt ihrer Mutter habe sie ja geerbt.
    Bei dem Gedanken an ihre Mutter fasste Maikea sich unwillkürlich an den Hals. Das silberne Medaillon, ein Hochzeitsgeschenk, das ihre Mutter bis zu ihrem Tod getragen hatte, lag nun um ihren Hals.
    Maikea hatte keine Vorstellung, welche Arbeit ein Kammerfräulein zu verrichten hatte. Aber schon das Wort erinnerte sie an ein Eingesperrtsein. Es klang weder nach Meer noch nach Strand und hatte also nichts mit dem zu tun, was ihr bislang wichtig gewesen war. Sie vergrub ihre nackten Füße im Sand, der, von der Mittagssonne beschienen, angenehm warm war.
    Der Sommer ließ noch auf sich warten. Zwar vertrieb die Maisonne bereits die Erinnerung an den Winter, doch abends und morgens war es noch kühl und oftmals windig. Das Geschrei der Möwen, die um diese Jahreszeit zänkisch ihre Jungtiere bewachten, dauerte den ganzen Tag an und übertönte das wesentlich melodischer klingende»Kiwitt « Der Kiebitze, die sich zum Brüten auf der Salzwiese niedergelassen hatten. Die Zugvögel malten bewegliche Bilder in den Himmel. Schwalben formierten sich zu Wolken, Gänse flogen in Pfeilen über sie hinweg, und der salzige Duft des Wattflieders wehte zu ihr herüber.
    Erst als Maikea das Knirschen des Kiels auf dem sandigen Untergrund hörte, schaute sie wieder auf. Die Schaluppe konnte an dieser Stelle dicht an der Insel anlegen, weil die tiefe Fahrrinne mit einer steilen Abrisskante an das flachere Watt grenzte.
    Der Schiffer war ein drahtiger Kerl mit hellblondem Haar und schiefem Grinsen. Er warf das Ankerseil über Bord und zog den schweren Metallhaken tiefer in den Schlick. So würde das Schiff auch bei auflaufendem Wasser noch festen Halt haben. Dann holte er die Segel ein und winkte den herbeieilenden Leuten zu.
    »Eyke! Hast du an meine Scheren gedacht?«, rief Frauke Oncken von den Dünen her. Sie raffte ihren Rock weit nach oben. Sie tat dies nicht nur, um so besser durch das kniehohe Wasser Richtung Boot waten zu können, sondern wohl vor allem, um ihre nackten Beine zu zeigen. Man munkelte, dass Eyke in jedem Hafen eine Braut habe. Und hier auf Juist war es eben Frauke Oncken. Tatsächlich küsste der Seemann sie auf den Mund und schob ihr, während er ein mitgebrachtes Paket in ihre Rockfalte legte, eine Hand auf den Oberschenkel.
    »Finger weg, du Lümmel!«, blökte Uke Christoffers, der wegen seines kranken Beines nicht ganz so schnell zum Schiff geeilt war, und zeigte wenig Begeisterung, dass der Festländer sich an einer der Inselfrauen vergriff. Doch in seinen Worten lag mehr Freundlichkeit als Argwohn, schließlich hatte auch er den Fährmann erwartet, wie so ziemlich jeder Insulaner.
    Die wöchentliche Schiffsankunft war immer etwas Besonderes. Uke Christoffers quälte sich

Weitere Kostenlose Bücher