Die IQ-Kids und die geklaute Intelligenz (German Edition)
würde den Brief des Direktors einfach durch einen besseren Brief ersetzen. Raggi begann zu schreiben und ahmte den Anfang eines Briefs nach, den er bei seinem Vater gefunden hatte und total albern fand. Also wirklich, „hochverehrter“ – was war das eigentlich für eine Anrede? Sein Vater hatte sich ganz schön was darauf eingebildet. Raggi hämmerte auf die Tasten ein.
Hochverehrter Herr Heimir.
Unglücklicherweise wird Ihr Sohn, Herr Ragnar Heimisson, in Dänisch, Geschichte und Werken durchfallen. Das klingt schrecklich, wenn man es zum ersten Mal hört, aber wenn man darüber nachdenkt, ist es gar nicht so schlimm. Es spielt nämlich überhaupt keine Rolle! Wundern Sie sich nicht, ich erkläre Ihnen, was ich damit meine.
Nehmen wir zum Beispiel Dänisch. Wer spricht Dänisch? Nun, die Dänen natürlich. Aber warum spricht sonst niemand Dänisch, zum Beispiel die Italiener? Oder die Chinesen? Ich mache mir wirklich viele Gedanken darüber, weil ich gezwungen bin, den Kindern Jahr für Jahr Dänisch beizubringen, und wissen Sie was? Ich habe herausgefunden, dass niemand Dänisch sprechen will, außer den Dänen, weil die Sprache so furchtbar ist. Außerdem sprechen alle Dänen Englisch, und Ihr Sohn, Herr Ragnar Heimisson, kann einfach mit den Dänen, die er trifft, Englisch sprechen. Bedenken Sie, dass Ihr Sohn nicht in Englisch durchfallen wird.
Nun zu Werken. Ich möchte Ihnen mitteilen, dass das Fach völlig veraltet ist. Es ist nämlich glücklicherweise heutzutage so, dass man, wenn man Geld hat, Handarbeiten von anderen kaufen kann. Man kann Strickpullis und genähte Sachen und so weiter im Laden kaufen. Ebenfalls gibt es Schreiner, und wenn man sich etwas bauen lassen will, zum Beispiel ein Haus, dann holt man sich einen Schreiner. Man muss sich nicht selbst damit herumplagen. Außerdem ist alles, was die Kinder bauen, völlig unbrauchbar. Schauen Sie sich nur das Vogelhäuschen an, das Ihr Sohn, Herr Ragnar Heimisson, gebaut hat. Kein richtiger Vogel, wie beispielsweise ein Adler, passt dort hinein. Ich denke, dass ein Adler gerade mal seinen Schnabel durch das kleine Loch zwängen könnte, und dann würde er bestimmt stecken bleiben. Adler stehen unter Naturschutz, mein Lieber. Vergessen Sie Werken. Geben Sie Ihrem Sohn einfach Geld.
Und kommen wir schließlich zu Geschichte. Was für ein Unsinn. In der Welt ist schon so viel passiert, dass die Hälfte mehr als genug wäre. Man kann nicht erwarten, dass Ihr Sohn, Herr Ragnar Heimisson, sich das alles merken oder lesen kann. Fangen Sie doch einfach mal bei sich selbst an. Alles, was Sie morgens in der Zeitung lesen, wird später Geschichte. Können Sie sich das alles merken? Na? Wollen Sie eine Prüfung über all das ablegen, was Sie in Ihrem Leben in der Zeitung gelesen haben? Ich denke nicht. Machen Sie sich keine Sorgen wegen Geschichte. Das meiste ist sowieso nur Quatsch, von dem niemand weiß, ob er stimmt, und der niemanden interessiert. Wer kann denn beweisen, dass die Ägypter diese großen, dreieckigen Häuser gebaut haben und nicht die Vietnamesen? Leihen Sie sich einfach mit Ihrem Sohn, Herrn Ragnar Heimisson, eine DVD aus. „Gladiator“ ist zum Beispiel eine gute DVD über Geschichte, und wenn Sie ganz clever sein wollen, können Sie auch Science-Fiction-Filme ausleihen, damit Ihr Sohn die Geschichte schon kennt, bevor sie Geschichte wird.
Wie Sie sehen, ist es gar nicht schlimm, in Dänisch, Werken und Geschichte durchzufallen. Deshalb sollten Sie Ihren Sohn, Herrn Ragnar Heimisson, nicht ausschimpfen. Wenn Sie meinen, Sie müssten es doch tun, dann halten Sie es in Maßen.
Mit besten Grüßen
vom hochverehrten Herrn Konráð Karlsson
Direktor der Sundschule
P.S. Rufen Sie mich nicht an.
Raggi las sich den Brief zufrieden noch einmal durch. Besonders angetan war er davon, wie feierlich „Ihr Sohn, Herr Ragnar Heimisson“ klang. Er druckte den Brief aus, und während das Blatt durch den Drucker ratterte, öffnete er ganz vorsichtig den Umschlag. Er musste wieder zugeklebt werden, ohne dass man sehen konnte, dass er geöffnet worden war. Raggi holte den echten Brief heraus, faltete ihn zusammen und steckte ihn in seine Hosentasche. Dann steckte er den neuen Brief hinein und klebte den Umschlag wieder zu. Mit einem Lächeln auf den Lippen legte er den Umschlag unter den Briefschlitz. Anschließend setzte er sich vor den Fernseher und wartete darauf, dass sein Vater nach Hause kam. Alles würde gut werden.
Etwa
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