Die Jagd beginnt
links und fuhr herum, weil sie wieder eine Bewegung wahrgenommen hatte. Es war nichts zu sehen, aber diesmal war sie sich trotzdem sicher. Hinter ihr war jemand gewesen. War immer noch jemand. Sie eilte beunruhigt in die andere Richtung davon.
Immer wieder sah sie nun am Rand ihres Gesichtsfelds in diesem oder jenem Seitengang eine Bewegung, zu schnell, um Genaueres erkennen zu können, und bevor sie den Kopf drehte, um es deutlich zu sehen, war es wieder verschwunden. Sie rannte. Als sie noch ein Mädchen war, hatten zu Hause in den Zwei Flüssen nur wenige Jungen mit ihr mithalten können. Die Zwei Flüsse? Was ist das?
Ein Mann trat aus einer Öffnung vor ihr. Seine dunkle Kleidung wirkte muffig und halb zerfallen, und er war alt. Älter als alt. Eine Haut wie vergilbtes Pergament spannte sich so fest über seinen Schädel, als läge darunter kein bisschen Fleisch.
Dünne Büschel von brüchigem Haar bedeckten einen vernarbten Kahlkopf, und seine Augen waren so eingesunken, dass sie aus zwei Höhlen hervorzuspähen schienen.
Sie kam auf den Pflastersteinen rutschend zum Stehen. »Ich bin Aginor«, sagte er lächelnd, »und Euretwegen gekommen.«
Ihr Herz wollte den Brustkorb sprengen. Einer der Verlorenen. »Nein. Nein, das kann nicht sein!«
»Ihr seid ein hübsches Mädchen. Ich werde Euch genießen.«
Plötzlich erinnerte sich Nynaeve daran, dass sie keinen Fetzen Kleidung am Leib trug. Mit einem spitzen Aufschrei und einem nicht nur vom Zorn geröteten Gesicht rannte sie weg, den nächsten Querweg hinunter. Gackerndes Lachen und die Geräusche von schleifenden, rennenden Füßen verfolgten sie; die mit ihr Schritt hielten; dazu schwer atmende Versprechen, was er alles tun werde, wenn er sie eingefangen hatte, Versprechen, die ihr den Magen schier umdrehten, obwohl sie kaum die Hälfte verstand.
Verzweifelt suchte sie nach einem Weg aus dem Labyrinth, sah sich ständig um, während sie mit geballten Fäusten weiterrannte. Der Weg zurück erscheint nur ein einziges Mal. Seid standhaft. Nichts – immer nur dieses endlose Gewirr von Gängen und Mauern. So sehr sie auch rannte: Das schmutzige Geschwätz erklang immer direkt hinter ihr. Langsam verwandelte sich ihre Furcht in Zorn.
»Seng ihn«, schluchzte sie. »Licht, verseng ihn! Er hat kein Recht dazu!« In ihrem Inneren fühlte sie ein Blühen, ein Öffnen, ein Ausbreiten zum Licht hin.
Mit gefletschten Zähnen drehte sie sich zu ihrem Verfolger um, gerade in dem Moment, als Aginor halb hinkend, halb rennend, hinter ihr erschien.
»Ihr habt kein Recht dazu!« Sie streckte ihm die Faust entgegen. Ihre Finger öffneten sich, als würfe sie etwas. Sie war nicht allzu überrascht, als eine Feuerkugel aus ihrer Hand schoss.
Sie explodierte an Aginors Brust und warf ihn zu Boden. Nur einen Augenblick lang lag er dort, dann erhob er sich taumelnd. Er schien den schwelenden Mantel überhaupt nicht zu bemerken. »Ihr wagt es? Ihr wagt es!« Er bebte vor Zorn, und Speichel rann ihm über das Kinn.
Plötzlich standen Wolken am Himmel, bedrohliche graue und schwarze Schwaden. Blitze zuckten aus der Wolke über ihr und zielten auf ihr Herz.
Nur einen Herzschlag lang schien ihr, als verlangsame sich der Lauf der Zeit, als dauere dieser Herzschlag eine Ewigkeit. Sie fühlte den Strom in ihrem Körper – Saidar , sagte ihr ein ferner Gedanke –, fühlte im Blitz ein Entgegenkommen. Und sie änderte die Richtung des Energiestroms. Die Zeit sprang voran.
Mit einem lauten Krachen zerschmetterte der Blitz die Steine über Aginors Kopf. Der Verlorene riss die Augen auf und taumelte rückwärts. »Das könnt Ihr nicht tun! Das kann nicht sein!« Er sprang weg, als ein Blitz dort einschlug, wo er gerade noch gestanden hatte. Stein explodierte zu einem Regen von Splittern.
Entschlossen ging Nynaeve auf ihn zu. Und Aginor floh.
Saidar war wie eine Strömung, die durch sie hindurchschoss. Sie fühlte die Steine ihrer Umgebung, fühlte die winzigen Teilchen der Einen Macht, die sie durchdrangen und zusammenhielten. Und sie fühlte, wie Aginor auch … etwas … unternahm. Sie nahm es nur schwach und wie aus großer Entfernung wahr, als sei es etwas, das sie niemals wirklich verstehen könne, aber sie sah die Wirkung in ihrer Umgebung und wusste, was sie hervorrief.
Der Boden grollte und wölbte sich unter ihren Füßen auf. Mauern stürzten vor ihr um. Steinhaufen versperrten ihr den Weg. Sie kroch hinüber, kümmerte sich nicht darum, ob scharfkantige Steine ihr
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