Die Jagd beginnt
PROLOG
Unter dem Schatten
D er Mann, der sich – zumindest hier – Bors nannte, verzog spöttisch das Gesicht, als er das leise Gemurmel hörte, das sich in dem Gewölbe des Saals wie Gänsegeschnatter anhörte. Seine Grimasse war durch die schwarze Seidenmaske verborgen, die sein Gesicht bedeckte. Auch die hundert anderen Gesichter im Saal waren durch solche Masken verdeckt. Hundert schwarze Masken und hundert Augenpaare, die sich bemühten, hinter die Masken zu blicken.
Wenn man nicht allzu genau hinsah, konnte man den riesigen Saal für den Teil eines Palasts halten: hohe Marmorkamine und goldene Leuchter, farbenfrohe Wandbehänge und ein Mosaikfußboden. Wenn man nicht allzu genau hinsah. Doch die Kamine gaben nur Kälte ab. Flammen tanzten über Holzscheiten, so dick wie Männerbeine, aber sie wärmten nicht. Die Wände hinter den Behängen und die Decke, die sich hoch über den Leuchtern wölbte, bestanden aus fast schwarzem, unbehauenem Naturstein. Es gab keine Fenster und nur zwei Türen an den gegenüberliegenden Seiten des Saals. Es schien, als habe sich jemand bemüht, den Anschein eines Empfangssaals in einem Palast zu erwecken, es dann jedoch mit oberflächlichem Dekor bewenden lassen. Der Mann, der sich Bors nannte, wusste nicht, wo sich dieser Saal befand, und er glaubte auch nicht, dass es einer der anderen wusste. Er wollte auch lieber nicht darüber nachdenken. Es genügte schon, dass er hierher berufen worden war. Auch darüber dachte er lieber nicht genauer nach, aber einem solchen Ruf folgte auch er.
Er rückte seinen Umhang zurecht, dankbar für die kalten Feuer, denn sonst wäre es ihm, bis zum Boden in schwarzes Tuch gehüllt, viel zu heiß geworden. Der weite Umhang verbarg seine gebückte Haltung, mit der er über seine wahre Größe hinwegtäuschte, und ließ die Leute rätseln, ob er nun dick oder schlank sei. Er war nicht der Einzige hier, der sich in eine ganze Schneiderspanne Stoff gehüllt hatte.
Schweigend beobachtete er die anderen im Saal. Ein großer Teil seines Lebens war von Geduld geprägt gewesen. Es war immer das Gleiche: Wenn er lange genug beobachtete und wartete, machte irgendjemand über kurz oder lang einen Fehler. Die meisten anwesenden Männer und Frauen mochten der gleichen Philosophie frönen; sie hielten die Augen offen und lauschten schweigend denen, die sprechen mussten. Einige Leute konnten das Warten und die Stille nicht ertragen und verrieten so mehr, als sie beabsichtigt hatten.
Diener schoben sich zwischen den Gästen hindurch, schlanke, blonde junge Menschen, die mit einer Verbeugung und mit einem wortlosen Lächeln Wein anboten. Die jungen Männer trugen ebenso wie die jungen Frauen enge, weiße Kniebundhosen und weite, weiße Hemden. Und alle, gleich ob männlich oder weiblich, bewegten sich mit einer atemberaubenden Grazie. Jeder sah aus wie ein Spiegelbild des anderen. Die Jungen waren gut aussehend, die Mädchen hübsch. Er zweifelte daran, dass er sie hätte unterscheiden können, und dabei hatte er ein aufmerksames Auge und ein gutes Gedächtnis für Gesichter.
Ein lächelndes, weiß gekleidetes Mädchen bot ihm ein Tablett mit Kristallkelchen an. Er nahm einen, hatte aber nicht vor zu trinken. Es mochte vielleicht den Eindruck von Misstrauen oder noch Schlimmerem erwecken – und das konnte hier tödliche Folgen haben –, wenn er jedes Getränk ablehnte, aber man konnte ja alles Mögliche in ein solches Getränk gemischt haben. Sicher hätten einige seiner ›Genossen‹ hier nichts dagegen, wenn die Anzahl ihrer Rivalen im Kampf um die Macht etwas schwände, wer auch immer die Unglücklichen sein mochten.
Gelangweilt fragte er sich, ob die Diener wohl nach diesem Treffen beseitigt werden müssten. Diener hören alles . Als sich das Mädchen aus seiner Verbeugung aufrichtete, suchte er ihren Blick über das süße Lächeln hinweg. Ausdruckslose Augen. Leere Augen. Die Augen einer Puppe. Augen jenseits des Todes.
Er schauderte, als sie graziös weiterging, und dann hob er den Kelch an die Lippen, bevor es ihm bewusst wurde. Nicht, was man dem Mädchen angetan hatte, brachte ihn zum Schaudern. Nein – jedes Mal, wenn er glaubte, an jenen, denen er nun diente, eine Schwäche entdeckt zu haben, waren sie ihm zuvorgekommen und hatten die vermutete Schwäche mit einer brutalen Präzision beseitigt, die ihn verblüffte. Und besorgte. Die oberste Regel seines Lebens war immer gewesen, nach Schwächen bei anderen zu suchen, denn jede Schwäche
Weitere Kostenlose Bücher