Die Jahre des Schwarzen Todes
aussortierten Äpfeln, von denen mehrere herausgerollt waren und auf dem Tisch verstreut lagen.
Die Ratten liefen nicht davon. Sie blickten auf, als Kivrin hereinkam, und sie sah ihre spitzen Nasen schnuppern und die kleinen runden Ohren zucken, und dann machten sie sich wieder über die Äpfel her. Beinahe ein Dutzend von ihnen mußte auf dem Tisch und im offenen Sack sein, wo es sich bewegte, und eine saß auf Agnes’ dreibeinigem Hocker und zog ihren langen Schnurrbart durch die zarten rosa Vorderpfoten. Es sah aus, als ob sie betete.
Kivrin stellte die Laterne auf den Boden. »Verschwindet!« schrie sie.
Die Ratten auf dem Tisch blickten nicht einmal auf. Die auf dem Hocker schaute sie über die erhobenen Pfoten hinweg mit den schwarzen Knopfaugen an, wie man einen ungebetenen Eindringling ansieht.
»Verschwindet von hier!« schrie sie und lief auf sie zu.
Sie flohen noch immer nicht. Zwei verschwanden hinter dem Sack, und eine ließ ein Stück von einem Apfel, den sie in den Vorderpfoten gehalten hatte, auf den Tisch fallen und huschte den beiden anderen nach. Nur eine sprang von der Tischkante auf den mit Binsen bestreuten Boden.
Kivrin hob das Messer. »Los, weg da!« Sie stieß mit dem Messer auf den Tisch nieder, und die Ratten spritzten auseinander. »Raus!« Sie holte wieder aus, dann fegte sie die Äpfel vom Tisch und auf den Boden, wo sie zwischen die Binsen rollten. Die Ratte, die auf Agnes’ Hocker gesessen hatte, rannte vor Überraschung oder Furcht direkt auf Kivrin zu. Sie warf mit dem Messer nach ihr, und die Ratte rannte zurück unter den Hocker und verschwand im Halbdunkel zwischen Bänken und Binsenstreu.
»Raus hier!« sagte Kivrin. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte sich.
»Mwaa«, sagte die Kuh vom Eingang.
»Es ist eine Krankheit«, flüsterte Kivrin durch die Finger. »Es ist niemandes Schuld.«
Sie bückte sich, hob das Messer auf und nahm die Laterne an sich. Die Kuh war mit der vorderen Hälfte durch die Tür hereingekommen und dann steckengeblieben. Sie muhte jämmerlich.
Kivrin überließ sie sich selbst und stieg die Treppe zur Kammer hinauf, ohne auf die huschenden, raschelnden Geräusche über ihr zu achten. In der Kammer war es eisig kalt. Der gewachste Leinenstoff, den Eliwys vor das Fenster gespannt hatte, war losgerissen und hing an einer Ecke. Auch der Bettvorhang war an einer Seite heruntergerissen, wo der Sekretär versucht hatte, sich hochzuziehen, und der Strohsack war halb vom Bett gerutscht. Darunter waren leise Geräusche zu hören, aber Kivrin versuchte nicht nachzusehen, woher sie kamen. Die Truhe stand noch offen, der geschnitzte Deckel lehnte am Fußende des Bettes, und der schwere purpurne Umhang des Sekretärs lag zusammengefaltet darin.
Der Weinkrug war unter das Bett gerollt. Kivrin legte sich auf den Bauch und griff unter das Bett, und der Krug rollte bei ihrer Berührung davon, und sie mußte halb unter das Bett kriechen, bevor sie ihn zu fassen bekam.
Der Korken war herausgefallen, wahrscheinlich als der Krug versehentlich unter das Bett gestoßen worden war. Ein kleiner Rest Wein haftete klebrig an der Öffnung.
Sie saß eine lange Minute hoffnungslos, den leeren Krug in der Hand.
In der Kirche gab es auch keinen Wein. Pater Roche hatte allen Meßwein für die Sterbesakramente verbraucht.
Plötzlich fiel ihr die Keramikflasche ein, die er ihr zur Behandlung von Agnes’ Knie gegeben hatte. Sie wand sich kriechend unter das Bett und tastete mit dem ausgestreckten Arm vorsichtig umher. In Sorge, sie könnte die Flasche umstoßen. Wieviel noch darin gewesen war wußte sie nicht, glaubte aber, daß der Rest für ihren Zweck ausreichen würde.
Trotz ihrer Sorgfalt hätte sie die Keramikflasche im dunklen Winkel unter dem Kopfende des Bettes beinahe umgestoßen und bekam sie gerade noch im Umkippen zu fassen. Rückwärtskriechend kam sie unter dem Bett hervor und schüttelte die Flasche. Sie mußte noch annähernd halbvoll sein. Sie steckte das Messer in die Lederschnur, die ihr Wams gürtete, nahm die Flasche in die eine und den Umhang des Sekretärs in die andere Hand und ging hinunter. Die Ratten hatten sich wieder über die Äpfel hergemacht, aber diesmal rannten sie davon, als Kivrin die Steinstufen herunterkam, und sie versuchte nicht nachzusehen, wohin sie sich verkrochen hatten.
Die Kuh klemmte mit dem Bauch in der Türöffnung und versperrte hoffnungslos den Weg. Kivrin legte im Durchgang auf den Boden, was sie bei sich
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