Die Jahre mit Laura Diaz
du schon einen Namen für sie?« fragte Dona Côsima.
»Li Po«, trällerte die kleine Laura. »Wir nennen sie Li Po.«
Die Großmutter warf ihr einen fragenden Blick zu. Laura antwortete mit einem Achselzucken, das »einfach so« bedeuten sollte. Alle küßten sie, und die Kleine lief zu ihrem Bett, um Li Po auf die Kissen zu setzen und ihr zu versprechen, selbst wenn man sie, Laura, bestrafen würde, Li Po werde niemals ausgeschimpft, und selbst wenn es Laura einmal sehr schlecht ginge, solle Li Po immer ihren Thron aus Kissen haben, um über Laura Dïaz' Schlafzimmer zu herrschen.
»Ruh dich aus, Li Po, schlafe, lebe glücklich. Ich werde immer für dich sorgen.«
Sie ließ ihre Puppe im Schlafzimmer zurück und ging nach draußen. Ihr kindlicher Instinkt trieb sie, die Großtat der Rückkehr in die natürliche Welt zu spielen, wie in einen Garten, in eine Welt, so üppig, so »überreich«, vor allem jedoch so genau spürbar, so nah und sicher für den Blick und die Berührung des Mädchens, das umgeben von verborgenem Wald, unruhigen Seen und wiedererstehenden Kaffeepflanzungen aufwuchs: so sagte es, mit lauter und wohlklingender Stimme, Tante Virginia.
»Und die äußerst fruchtbar sind«, setzte sie gewöhnlich noch hinzu, damit nichts unerwähnt blieb. »Most fertile.«
Die Finger des Hauses hielten die Schwestern in seinen Mauern gefangen, den Schlingpflanzen des Tropenwaldes gleich. Tante Hilda spielte Klavier (ich betäube und begeistere mich zugleich, ich schäme mich, und doch bereitet es mir ein heimliches Vergnügen, meine zehn Finger zu gebrauchen, mich hinzugeben, aus mir selbst herauszutreten, zu fühlen und allen zu sagen, daß die Musik, die sie hören, nicht von mir ist, das bin nicht ich, das ist Chopin, ich trage sie nur vor, ich, die diesen wunderbaren Klang durch Hände und Finger hervorströmen läßt, wobei ich genau weiß, daß mir Mutter draußen in ihrem Schaukelstuhl zuhört, sie, die mir nicht erlaubt hat, in Deutschland zu bleiben und zu studieren und eine bedeutende Pianistin zu werden, eine wirkliche Künstlerin, und auch Vater hört mir zu, der uns an diesem kleinen, öden Ort gefangenhält – beiden werfe ich vor, daß ich meine mir ganz eigene Bestimmung verloren habe, die Hilda Kelsen, die ich hätte sein können, werde ich nie mehr, so sehr ich es auch versuche, so sehr mich ein glückliches Geschick begünstigen mag, das ich jedoch nicht zu beherrschen vermag oder zu dem ich sagen könnte, ich habe dich gestaltet, du gehörst mir, so wird es nicht mein Schicksal sein, sondern bleibt eine Episode, ein Geschenk des Zufalls, ich spiele Chopins tieftraurige Préludes und finde keinen Trost, sondern fasse mich lediglich in Geduld und spüre die heimliche Freude, meinen Vater und meine Mutter zu kränken…), Tante Virginia schrieb ein Gedicht (ich lebe inmitten von Resignation, aber ich will mich nicht ergeben, eines Tages will ich fliehen, wobei ich fürchte, daß meine Lust am Lesen und Schreiben eben nur das ist: eine Flucht und keine innere Berufung, der ich mich genauso hier wie in Deutschland widmen könnte oder, wie ich einmal gesagt habe, in China, mal sehen, ob ich nicht wie die Puppe meiner kleinen Nichte ende, schön, aber stumm, für immer auf einem Kissen plaziert…), Mutti Leticia half der Köchin, ein paar typische Tamales der Küstengegend zuzubereiten (wie befriedigend es doch ist, den weichen Teig mit Schweinefleisch und scharfem Chili zu füllen und dann zu kochen, um schließlich jeden einzelnen Tamal liebevoll wie ein Kind in seine Decke aus Bananenblättern zu wickeln, Geschmack und Duft, Fleisch und Gewürz, Frucht und Mehl zu vereinen und zu bewahren, welch eine Gaumenlust, sie erinnert mich an die Küsse Fernandos, meines Mannes, aber daran darf ich nicht denken, das haben wir abgesprochen, das paßt uns allen am besten, es ist gut, daß das Mädchen hier auf dem Land bei mir aufwächst, jeder hat seine Pflichten, man soll das Vergnügen nicht in der Jugend ausschöpfen, man muß es für die Zukunft aufheben, man muß die Lust als Belohnung empfangen, nicht als Bevorzugung, mit einem Geschenk des Schicksals ist es so schnell vorbei wie mit einer Laune, man glaubt, alle Rechte zu haben, und hat am Ende gar keines mehr, ich möchte lieber geduldig warten, ich bin erst dreiundzwanzig, ich habe das Leben noch vor mir, das ganze Leben vor mir…), Großvater Felipe setzte die Brille auf und überprüfte die Rechnungen (ich kann mich nicht beschweren,
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