Die Judas-Papiere
Zwischentüren, so dass man sie bei Bedarf miteinander verbinden konnte. Byrons Zim mer befand sich zwischen dem von Harriet und dem Zimmer von Ho ratio. Kaum hatte ein Hoteldiener seinen sperrigen, gut brusthohen Schrankkoffer gebracht, als sich auch schon seine drei Gefährten bei ihm einfanden.
»Allmächtiger, haben Sie Ihren ganzen Hausstand mitgebracht, Bourke?«, fragte Alistair, als sein Blick auf den Inhalt des aufgeklapp ten Schrankkoffers fiel. »Sie haben ja Garderobe für eine ganze Ball saison dabei und schleppen dazu auch noch eine halbe Bibliothek mit!«
Bei seiner Abreise hatte Byron sein Gepäck eigentlich für recht bescheiden gehalten. Doch im Vergleich zu dem von Harriet und Horatio nahm sich sein tiefer Schrankkoffer natürlich recht extravagant und übermäßig aus, von Alistairs beiden armseligen Reisetaschen ganz zu schweigen. Eigentlich hatte auch Horatio nicht viel Gardero be mit, obwohl sein Gepäck aus zwei Koffern bestand. Doch einer davon enthielt wohl überwiegend metallische Gegenstände. Denn als Byron ihn in Dover bei ihrer Einschiffung auf das unüberhörbare metallische Scheppern angesprochen hatte, hatte Horatio ihm etwas vage geantwortet: »Das ist nur ein Teil meiner üblichen Ausrüstung, auf die ich bei gewissen nächtlichen Unternehmungen angewiesen bin. Wer weiß, wozu die Sachen auf unserer Reise gut sein werden.«
Byron nahm sich vor, Horatio bei Gelegenheit darum zu bitten, ihm zu zeigen, woraus seine »übliche Ausrüstung« bestand, und wandte sich dann Alistair zu. »Ein Gentleman muss nun mal für alle Gelegen heiten gerüstet sein und reist auch nicht ohne eine kleine Reisebiblio thek«, antwortete er ihm gelassen, empfand insgeheim jedoch einen Anflug von Verlegenheit. Und das war eine ganz neue Erfahrung. Denn bis zu jenem Tag, an dem James Fitzroy ihn über seinen finanziellen Ruin unterrichtet hatte, hatte er sich keine Gedanken darüber ge macht, wie gut und sorglos sein Leben bislang gewesen war. »Zudem hoffe ich, dass uns der Weltatlas und einige meiner Nachschlagewerke beim Entschlüsseln der Codes eine große Hilfe sein werden.«
»Womit wir beim Thema wären«, sagte Harriet, ließ sich in einen Sessel fallen und legte die Beine wenig damenhaft über eine der Leh nen. »Womit fangen wir an, Mister Bourke?«
Auch die Männer machten es sich in der Sitzgruppe unter dem Er kerfenster mit den schweren Samtvorhängen bequem, und während Horatio seine Pfeife stopfte und Alistair zu seinen Gold Flake griff, legte Byron das Notizbuch aufgeschlagen in die Mitte des Tisches.
»Entscheidend sind für uns allein die ersten Zeilen, und zwar bis hierhin zum ersten Samuel«, sagte er und deutete auf ebendiesen Namen in der siebten Zeile.
»Und was ist mit dem Rest?«, fragte Horatio und steckte seinen Pfeifentabak in Brand.
»Der besteht nur aus Wiederholungen dieser Namensreihe als oberflächliche Augenwischerei«, sagte Byron. »Der Wien-Code be steht aus den ersten 56 Wörtern, deren Reihenfolge sich dann mehr fach und ohne jede Veränderung wiederholt. Innerhalb dieser Folge tauchen 19 verschiedene biblische Namen auf. Am häufigsten kommt Erech vor, nämlich zwölfmal.«
»Die Zahl kann von Bedeutung sein. Denn zwölf ist doch auch die Zahl der Stämme Israels«, bemerkte Horatio.
»Womöglich steht jeder Name für einen Buchstaben des Alpha bets«, nahm Harriet an. »Also beispielsweise Erech für das E, Kena für das K und Pichol für das P.«
Alistair nickte. »Das könnte hinhauen. Das Alphabet besteht aus 26 Buchstaben. Und da die Buchstaben x, y und z recht selten in einem Text vorkommen sowie j auch für i und das v auch für u stehen kann, reichen 19 verschiedene Buchstaben bestimmt völlig aus.«
»Das ist in der Theorie nicht ganz falsch«, sagte Byron. »Doch auf unseren Fall bezogen ist das ganz sicherlich nicht der Schlüssel, nach dem wir suchen.«
Alistair furchte die Stirn. »Und warum nicht?«
»Ein Alphabet ist ein linear geordneter Zeichenvorrat, dessen Um fang von der Epoche und Sprache abhängt«, sagte Byron. »Unser Al phabet ist im Laufe der Jahrhunderte gewachsen. Im Mittelalter, als das Latein die Schriftsprache dominierte, kam man mit 20 Buchsta ben aus. Um 1600 wuchs dann das europäische Alphabet auf 24 Zei chen. Das U kam im achtzehnten Jahrhundert und das Z sogar erst in unserem neunzehnten Jahrhundert dazu. Die kyrillische Sprache kennt übrigens 32 Zeichen. Das Irische kommt dagegen ohne j, k, q, v, w, x, y, z aus und
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