Die Judas-Papiere
dem Bahnhof einen Mann wieder gesehen, der mit uns von Dover nach Ostende gereist ist und der of fensichtlich auch denselben Zug hierher nach Wien genommen hat. Als ich ihn fixiert habe, ist er rasch in der Menge untergetaucht. Das kam mir doch sehr merkwürdig vor.«
»Das kann ein Zufall gewesen sein und muss nicht bedeuten, dass wir verfolgt werden«, sagte Harriet. »Bestimmt sind noch andere Schiffspassagiere in den Zug nach Wien gestiegen. Die Fähre bedient ja die Verbindung Ostende-Wien.«
Horatio nickte. »Richtig, aber ich halte es für klug, wenn wir die Möglichkeit einer Verfolgung nicht einfach ausschließen, nur weil diese Strecke von vielen Reisenden benutzt wird.«
»Wie sah dieser Mann denn aus?«, wollte Alistair wissen.
»Mittelgroß, etwas untersetzt, buschiger Schnurrbart und etwa Mitte vierzig«, sagte Horatio. »Er trug einen weiten dunkelbraunen Umhang, eine flache, wollene Schirmmütze mit dunklem Schotten muster und eine Brille in Form eines Nasenkneifers, also ohne Sei tenbügel.«
»Gut, wir werden die Augen offen halten, ob uns dieser Mann noch einmal begegnet«, sagte Byron. »Es kann nicht schaden, Vorsicht wal ten zu lassen und auf der Hut zu sein! Wir können nicht ausschlie ßen, dass Mortimer Pembroke tatsächlich von einem dieser Geheim bündler wie den Illuminaten oder diesen mysteriösen Wächtern ver folgt worden ist. Und wenn es Männer wie diesen Abbot und Marti kon wirklich gegeben hat, die Mortimer Pembroke die Papyri abja gen wollten, dann können auch wir es irgendwann mit einem von ih nen zu tun bekommen!«
Mit diesem etwas beunruhigenden Gedanken zogen sich alle zu rück. Als Byron allein in seinem Zimmer war, konnte er sich jedoch noch nicht zu Bett begeben. Die unerklärliche Anordnung der bibli schen Namen ließ ihm keine Ruhe. Sein Ehrgeiz, den Code zu kna cken, war stärker als seine Müdigkeit.
Byron ließ sich einen Packen liniertes Schreibpapier aufs Zimmer bringen und füllte eine Seite nach der anderen mit allerlei Kombina tionen und Berechnungen. Aber was auch immer er versuchte, er fand den Schlüssel nicht. Die 56 Namen wollten ihr Geheimnis ein fach nicht preisgeben.
Frustriert von Stunden voller Fehlschläge wischte er die Blätter in einem Anflug von Zorn über seine Unfähigkeit von der Schreibplatte des Sekretärs. Und die Müdigkeit, die er so lange unterdrückt hatte, brach sich nun in ihm Bahn. Sie überfiel ihn mit Macht und raubte ihm den letzten Funken Antrieb, es mit der Entschlüsselung des Codes noch einmal zu versuchen.
Auf dem Weg zu seinem Bett stieß er auf zwei der linierten Blätter, die zu Boden geflattert waren und nun vor seinen Füßen auf dem Teppich lagen. Die obere Seite schnitt mit ihrer rechten Außenkante auf dem unteren Blatt senkrecht durch eine der drei langen Spalten, in die er die 56 Namen untereinander aufgelistet hatte.
Als er sich nach den beiden Blättern bückte, erfasste sein Auge et was, das ihn stutzen ließ. Er folgte der Linie, die die Kante des obe ren Blattes über das darunterliegende Blatt zog, von unten nach oben – und wusste im nächsten Moment, dass er den Schlüssel ge funden hatte!
Byron lachte erlöst auf. »Mein Gott, wo habe ich nur meine Augen gehabt?«
Schnell hob er das untere Blatt auf und kehrte wieder an den Sek retär zurück. Dort griff er zu einem leeren Blatt und schrieb die Na men ein weiteres Mal untereinander in drei Spalten – jedoch in einer anderen Reihenfolge, als Mortimer Pembroke sie in seinem Notiz buch aneinandergereiht hatte. Nämlich in umgekehrter Reihenfolge. Als das getan war, zog Byron drei lange senkrechte Striche durch die Spalten und nun ließ sich die Botschaft ohne Schwierigkeit lesen.
In seiner Freude, die erste codierte Nachricht in Mortimer Pem brokes Journal entschlüsselt zu haben, stürzte er sogleich aus dem Zimmer, um seine Gefährten davon zu unterrichten. Er stand schon vor der Tür von Harriets Zimmer und hatte die Hand erhoben, um an zuklopfen, als ihm bewusst wurde, dass Harriet ja schon längst im Bett lag und er sie mit seinem Klopfen womöglich aus dem Schlaf riss.
Er ließ die Hand sinken, blieb jedoch noch für einen langen Moment vor ihrer Tür stehen. Dann wandte er sich mit einem merkwürdigen Gefühl der Enttäuschung um und kehrte in sein Zimmer zurück.
Wie gedankenlos und dumm von ihm, dass er nicht gleich daran gedacht hatte, wie spät es schon war. Natürlich würde auch Horatio mittlerweile in tiefem Schlaf liegen, während
Weitere Kostenlose Bücher