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Die jungen Rebellen

Titel: Die jungen Rebellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Linien, wie man sie von topographischen Landkarten kennt. Der knochige Finger des Vaters folgt den Linien dieser sonderbaren Karte mit ihren Verzweigungen, ertastet Erhebungen, zieht vorsichtig jede Kurve nach und klopft aufs Glas, wo die Linie am Rand des Plättchens abbricht.
    »Dies ist mein schönstes Präparat«, sagt der Vater.
    Der Knabe weiß, daß der Finger des Vaters in den Strukturen eines Gehirns herumkurvt. Das Bild unter Glas ist vielfältig, voller gefährlicher, unruhiger Windungen. Was für eine Landkarte –denkt er. Der Vater beugt sich über das Präparat, das Licht fällt jetzt grell auf sein Gesicht, das einen quälenden Zug von Neugier zeigt, eine schmerzliche, hilflose Neugier –diese Anspannung verzerrt die sonst so beherrschten Züge fast zu einem Grinsen. Unwillkürlich beugt auch Ábel sich näher.
    Der Finger des Vaters gelangt tastend und kreisend zu dem Punkt der Struktur, an dem die Kurve aus einer Verknotung in mehrere Richtungen zerfällt. Wie ein Geologe, der sich auf der Karte einer fremden Landschaft nicht zurechtfindet, wie der Arzt, der ungeduldig und hilflos am Geheimnis des ertasteten kranken Körperteils fühlt und klopft. »Das war ein ruthenischer Bauer«, sagt der Vater nachdenklich. »Eines Tages hat er seine ganze Familie ausgelöscht. Die Eltern, die Frau, seine beiden Kinder. Das ist mein schönstes Präparat.«
    Ábel beugt sich über die bläuliche eingetrocknete Materie. Im Gesicht des Vaters löst sich die quälende, angespannte Neugier, es wird leer, die knochige Hand schiebt das Präparat weg, und die Augen starren jetzt ausdruckslos vor sich hin.
    Am Abend hat der Vater immer Geige gespielt. Jeden Abend spielte er, niemand durfte dann das Zimmer betreten. Nach dem Abendessen zog er sich zurück und kämpfte eine Stunde lang mit dem sich wehrenden, störrischen Instrument. Der Vater hat nie Unterricht gehabt, eine eigenartige Scheu hielt ihn davon ab, sich von jemandem unterweisen zu lassen. Miserabel und, wie der Junge fand, bösartig hat er gespielt. Aber er wußte selbst, daß sein Spiel ein trotziges und hoffnungsloses Unterfangen war. Und er duldete nicht, daß man in seiner Anwesenheit sein Musizieren erwähnte. Doch die quälenden Töne erfüllten die ganze Wohnung. Dieses sich Abend für Abend wiederholende Ringen mit der Geige wirkte auf Ábel so, als gäbe sich der Vater in seinem Zimmer, in gewisser Weise schadenfroh, einer häßlichen und schandbaren Leidenschaft hin. Da schloß auch Ábel sich in sein Zimmer ein, saß im Dunkeln, hielt sich die Ohren zu; starrte mit zusammengepreßten Lippen vor sich hin und wartete. Jetzt ruhte die Geige oben auf dem Schrank mit den medizinischen Geräten.
    Den Tod des Vaters stellte Ábel sich wie einen Bergsturz vor. Noch ist nichts Besorgniserregendes mit ihm geschehen, nur war er, wenn er auf Urlaub kam, noch schweigsamer als sonst.
    Ábel drückt sich den Hut auf den Kopf, macht unwillkürlich eine Verbeugung zum Schreibtisch hin und verläßt den Raum.
     
    ~
     
    Im Treppenhaus begegnet er der Tante. Sie ist in vollem Putz, bleibt stöhnend stehen. Die beiden geben sich einen Kuß. Die Tante bittet ihn, sich den Mantel anzuziehen und nicht zu spät nach Hause zu kommen. Für einen Augenblick ist er versucht, sich an ihre Brust zu werfen und ihr alles zu sagen.
    Das Treppenhaus mit den im Halbkreis umlaufenden breiten Stufen und den alten Stichen, die steinerne Stadthäuser zeigen, wirkt herrschaftlich. Die Stufen sind mit einem vielfarbigen Bauernteppich belegt. Die verglaste Diele diente einst als Wartezimmer für Vaters Patienten, sie war getränkt vom Geruch fremder Menschen, der sogar noch stärker war als der penetrante Jod- und Äthergestank aus Vaters Medikamentenschrank.
    Ernő s Vater roch nach Kleister und Rohleder. Der Dunstkreis von Bélas Vater bestand aus einer Mischung von orientalischen Gewürzen, Salzhering und dem welken Geruch von überreifen Früchten. In Tibors Familie herrschte ein diskret von Lavendel überdeckter Armuts- und Krankheitsgeruch vor, dazu kamen die Ausdünstungen von gegerbtem Leder. Das Gewerbe der Väter prägt die Wohnungen auf unerbittliche Weise. Wenn Ábel an das elterliche Heim denkt, hat er die leichte nüchterne Ätherwolke in der Nase, aufdringlich und zugleich betäubend. Jeder Winkel der Wohnung lebt auf diese Weise in ihm; und wenn er sich nach diesem Kompaß der Gerüche orientiert, kann er sich jeden einzelnen Winkel in Erinnerung rufen.
    Die Tante

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