Die Känguru-Offenbarung (German Edition)
Stimme: »NICHT ERSCHRECKEN!«
Ich erschrecke mich total. Die Stehlampe neben dem Drehsessel wird angeknipst. Im Sessel sitzt das Känguru.
Das Beuteltier hat es sich mit dem Kopf nach unten bequem gemacht, kichert und wirft sich eine Schnapspraline ein.
»Das ist ja ’ne Überraschung!«, rufe ich.
»Meine Mutti hat immer gesagt: ›Das Leben ist wie eine Schachtel Schnapspralinen!‹«, sagt das Känguru gut gelaunt.
»Alles sieht lecker aus, schmeckt aber furchtbar?«, frage ich. »Oder was wollte sie damit sagen?«
»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was sie damit sagen wollte. Vermutlich hat meine Mutti meistens einfach nur Quatsch erzählt.«
»Die Vermutung hatte ich auch schon.«
»Sie hat mir aber auch wirklich gute Ratschläge gegeben, die ich immer noch beherzige.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel: Kind, was immer du mit deinem Leben anfängst, iss niemals gelben Schnee.«
Über uns drehen die Nachbarn ihre Anlage noch lauter auf. Der Bass lässt die Decke so stark vibrieren, dass die Farbschicht Risse bekommt.
»Ich werde eine neue politische Bewegung gründen, die sich gegen Privatbesitz von Subwoofern richtet«, sage ich. »Ich wünschte, es würde sich endlich mal jemand oben beschweren.«
Das Känguru geht zur Musikanlage, macht Nirvana an, dreht die Lautstärke auf und sagt: »Ich schicke mal den Kurt los, sich zu beschweren.«
Ich setze mich auf den frei gewordenen Sessel.
»Biste gar nicht überrascht, dass ich wieder da bin?«, ruft das Känguru und boxt mich freundschaftlich.
»Doch, doch. Das wollte ich mit dem Satz ›Das ist ja ’ne Überraschung!‹ zu verstehen geben«, sage ich. »Das war natürlich etwas missverständlich ausgedrückt.«
»Freuste dich gar nicht? Warum bist du denn so knatschig?«
»Ich bin nicht knatschig! Ich freue mich!«, sage ich. »Ich bin nur gerade emotional überfordert.«
Ich blase Luft in meine linke Backe und lasse sie wieder rausplatzen.
»Was soll eigentlich die Aufmachung?«, frage ich. Das Känguru trägt ein rotes Hawaiihemd mit lila Papageien und einen falschen Schnauzbart. Auf dem Kopf hat es eine Baseballkappe, auf der »God bless the USA» steht.
»Nun, nun. Meine Meinungsverschiedenheiten mit der Abschiebebehörde sind noch nicht gelöst.«
»Biste inkognito hier?«
»Ja.«
»Illegal?«
»Jo.«
»Cool.«
»Das ist deine Sicht der Dinge.«
»Und deshalb verkleideste dich jetzt immer?«
»Du stellst immer noch gern unnötige Fragen, was?«
»Aber müsstest du dich nicht lieber verstecken statt verkleiden?«
»Ich verstecke mich doch!«
»Zu Hause?«
»Ja.«
»Bist du verrückt?«
»Ja«, sagt das Känguru. »Aber das hat nichts damit zu tun.«
»Das ist doch total bescheuert.«
»Das ist ja das Brillante«, sagt das Känguru. »Sich zu Hause zu verstecken ist so bescheuert, dass die Polizei das von vorneherein ausschließen wird, wenn sie auch nur ein kleines bisschen mitdenkt.«
»Das ist aber ein sehr gewagter nachgestellter Konditionalsatz.«
»Alter, du bist so ein Klugscheißer«, sagt das Känguru. »Du könntest echt …«
Es pocht an der Tür.
»Hier ist die Polizei«, ruft eine tiefe Stimme. »Aufmachen!«
»›Wozu ist das?‹
› Das ist blaues Licht. ‹
› Und was macht es? ‹
› Es leuchtet blau. ‹«
Deutsche Hochschule der Polizei
»Hier ist die Polizei!«, ruft die tiefe Stimme noch einmal. »Öffnen Sie die Tür!«
»Versteck dich!«, flüstere ich dem Känguru aufgeregt zu. »Sie dürfen dich nicht finden!«
»Was?«, ruft das Känguru. »Die Musik ist zu laut!«
Ich gestikuliere wild, darauf drängend, dass es verschwindet. Gemächlich schlurft es hinter den Garderobenständer. Ich öffne die Tür und verdecke dadurch den Garderobenständer.
Neben dem vier Tage alten Müllbeutel stehen ein Polizist und eine Polizistin.
»Wir sind die Polizei«, sagt die Polizistin.
»Nun«, sage ich. »So weit, so offensichtlich.«
»Einer Ihrer Nachbarn hat uns alarmiert«, sagt der Polizist.
»Ich bin ganz alleine zu Hause«, sage ich sofort. »Niemand ist hier, außer mir. Bin ganz allein.«
»Vielen Dank für das Angebot«, sagt der Polizist. »Aber wir sind im Dienst.«
»Ich wollte Sie nicht …«
»Einsamkeit ist kein Grund, sich zu schämen«, sagt der Polizist. »Ich fühle mich auch oft einsam.«
Ich kratze mich am Kopf.
»Haben Sie’s schon mal mit Alkohol versucht?«, frage ich.
»Natürlich«, erwidert der Polizist. »Aber lassen Sie sich eines sagen: Das ist keine
Weitere Kostenlose Bücher