Der fremde Sohn (German Edition)
Freitag, 24. April 2009
E he sie recht begriff, was geschah, drang das Messer tief in seinen Körper. Wieder und wieder. Wie erstarrt sah sie zu, wie es durch die Luft fuhr und ihrer beider Leben auf die wenigen wunderbaren Momente verdichtete, bevor es geschehen war, bevor das Messer ihn traf und sich ihre Welt für immer veränderte.
Was konnte sie tun? Nichts. Gar nichts.
Zum letzten Mal blickten sie einander in die Augen. Für eine Sekunde, in der all ihre Liebe lag. Sie sah sein Blut strömen. Was wollte er ihr sagen?
»Scheiße!«
»Blöd gelaufen!«, brüllte einer der Jungen im Davonrennen. Schon war die ganze Bande auf der Flucht. Ihre Turnschuhe blitzten auf, die Säume ihrer glänzenden Jogginghosen schleiften durch die Pfützen, ihre Augen glänzten unnatürlich, befeuert vom Adrenalin, von Drogen und Alkohol.
Sie schmeckte noch den Essig von den Pommes auf ihren Lippen. Wie in Zeitlupe ging er in die Knie, sein Oberkörper krümmte sich zusammen. Kaum zu glauben, dass er sich überhaupt so lange auf den Beinen gehalten hatte. Sie versuchte noch, ihn aufzufangen, doch sein Kopf schlug schon auf dem Asphalt auf. Sie wollte schreien, aber es kam kein Laut. Seine Augen traten hervor.
Sie presste die Hände auf seine Rippen, seinen Bauch, doch es waren zu viele Stichwunden. Heiß quoll das Blut zwischen ihren Fingern hervor, wo es rasch erkaltete.
»Du darfst nicht sterben!«, schluchzte sie und ließ den Kopf auf seinen Körper sinken. War denn niemand da? »Hilfe!«, kreischte sie. Sie waren alle im Unterricht. Heute schwänzte niemand außer ihnen. »Ich hole Hilfe!«, stieß sie verzweifelt hervor, wagte jedoch nicht, die Hände von seinen Wunden zu nehmen. Wie hatte das nur geschehen können?
Plötzlich hob sich seine Brust mit einem gurgelnden Röcheln und fiel dann wieder zusammen, als hätte er seinen letzten Atemzug getan. Sonst gab er keinen Laut von sich.
» Hilfe! «, schrie sie noch einmal und rappelte sich auf. Sie musste etwas unternehmen. Verzweifelt blickte sie sich um, sah jedoch nichts als die tristen Fassaden der hässlichen Schulgebäude, den leeren Schulhof – eine gottverlassene Einöde. Sie zog das Handy aus der Tasche und wählte den Notruf. Gab die Einzelheiten durch. Brüllte, sie sollten sich beeilen. Er läge im Sterben. Bitte, kommen Sie schnell!
»Lass mich nicht allein!«, flehte sie, als sie wieder neben ihm auf den Knien lag und die Hände auf seine Wunden presste, wie der Mann am Telefon ihr geraten hatte. Sein Gesicht war ausdruckslos, sein Blick leer – nicht einmal Schmerz spiegelte sich darin. Unvorstellbar, dass sie sich noch vor zehn Minuten einen Joint und eine Schale Pommes geteilt hatten.
»Ich kann ohne dich nicht leben!«, rief sie, als ihr alles wieder einfiel. Allein schaffte sie es nicht. Tränen fielen und vermischten sich mit seinem Blut. »Ohne dich will ich nicht leben!«, stieß sie zwischen krampfhaften Schluchzern hervor, die Stimme erstickt von Speichel und Schleim, Tränen und Blut. » Scheißkerle! «, brüllte sie.
»Bleib bei mir! Bleib bei mir!«, keuchte sie immer wieder, die Hände auf seinen Leib gepresst, während sie den Oberkörper vor und zurück wiegte. Wo blieb nur der Rettungswagen? Sie riss sich zusammen und versuchte, sich an das zu erinnern, was sie letztes Jahr im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatten. Ein Kurs im Schnelldurchgang für Situationen, die keiner erleben wollte. »Ganz ruhig«, redete sie sich selbst zu. Mit Panik war ihm nicht geholfen. Sie zwang sich, langsamer zu atmen, nicht zu hyperventilieren.
Was hatte sie nur getan?
Darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Sie nahm die Hände von seiner Stichwunde, schälte sich eilig aus ihrer Jacke und legte sie zitternd über seine Brust und seinen Bauch. Dann presste sie die Arme erneut auf seine Wunden. Alle paar Sekunden lief ein Beben durch seinen Körper – wie eine Schockwelle, die sich durch ihre Arme bis in ihr Herz fortsetzte.
Sie hatte ihm nie gesagt, dass sie ihn liebte.
Sie sah, wie sich ein Blutfleck auf dem Stoff ihrer Jacke ausbreitete, schwarz wie der Tod, und im gleichen Augenblick hörte sie die Sirene.
»Gott sei Dank!«, rief sie. »Der Rettungswagen ist da. Bitte halt durch!« Sie stützte sich auf den linken Unterarm, mit dem sie mehrere tiefe Wunden abdeckte, während sie den rechten auf weitere Einstiche unterhalb seiner Rippen drückte. Vor Anstrengung zitterte sie.
Plötzlich war sie von Stimmen umgeben.
»Männlicher
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