Die Kaiser des Mittelalters - von Karl dem Großen bis Maximilian I.
instrumentalisierte das Deutsche Reich von 1871 die Geschichte des Heiligen Römischen Reichs für sich. Die Kaiserherrlichkeit der Ottonen, Salier und Staufer wurde zum Unterpfand deutscher Weltgeltung. Entwürfe für eine niemals ausgeführte deutsche Kaiserkrone orientierten sich dezidiert am mittelalterlichen Vorbild, das in die Schatzkammer der Wiener Residenz gekommen war. Nationaldenkmäler bauten in wilhelminischer Zeit die Brücken in die Vergangenheit, voran der Kyffhäuser oder die Goslarer Kaiserpfalz. Vor der wieder errichteten Pfalz, ausgemalt mit Szenen mittelalterlicher Geschichte, symbolisierten die beiden Reiterstandbilder Kaiser Friedrichs I. und Kaiser Wilhelms I. «des Großen» die Einheit der alten und der neuen Zeit. Auf Barbarossa, den Rotbart, folgte Barbablanca, der Weißbart. Bis heute hat sich die historische Begrifflichkeit von der damaligen Germanisierung mittelalterlicher Geschichte nicht gänzlich erholt. Bedenkenlos verlängerte man im 19. Jahrhundert die deutsche Geschichte in germanische Vorzeiten und das deutsche Kaisertum in mittelalterlich-römische Vergangenheiten zurück.
Kaiserliche Herren hatten sich ihre Universalität über die Jahrhunderte immer nur eingebildet: der römische Caesar, der Kalif von Bagdad, der türkische Sultan, der indische Mogulkaiser, der russische, chinesische, äthiopische Kaiser. Im 19. und 20. Jahrhundert hielt man die Pluralität des Kaisertums dann aus. Die Kaiser der Franzosen, die Kaiser von Österreich oder die Deutschen Kaiser weckten Begehrlichkeiten. Bald gab es auchKaiser von Brasilien (1822–1889) oder Mexiko (1822–1823, 1864–1867). 1876 wurde die britische Königin Victoria zur Kaiserin von Indien. Auch das äthiopische Kaisertum des italienischen Königs, die Herrschaft des Schahs von Persien als König der Könige oder neuere afrikanische Experimente blieben Episode. Heute gibt es gelebtes Kaisertum nur noch im demokratischen Japan: der Tenno, ein himmlischer Souverän.
In Europa vernichtete der Erste Weltkrieg 1917/1918 das Kaisertum in Deutschland, Österreich und Russland. Seither erinnerte man sich dort mit Abscheu, Wehmut oder Gleichgültigkeit an imperiale Vergangenheiten. Ihr drittes Reich ohne Kaiser bauten die Deutschen mit einem Führer auf. Auch das nationalsozialistische Deutschland griff immer wieder auf ein «deutsches Mittelalter» zurück. Die Reichsparteitage in Nürnberg führten das alte und das neue Deutschland zusammen. SS-Divisionen hießen Hohenstaufen oder Charlemagne (für französische Freiwillige der Waffen-SS). 1941 musste Barbarossa seinen Namen für den Überfall auf die Sowjetunion leihen. Hermann Görings Rede vor dem Untergang Stalingrads 1943 bemühte den Endkampf im Nibelungenlied aus dem 12. Jahrhundert. Auf furchtbare Weise erfüllte sich die Forderung Heinrich Himmlers in einer Rede vor der SS-Division «Das Reich», künftig müsse jedermann in Europa das Wort Reich nur noch mit Deutschland verbinden.
Trotzdem wurden Katastrophe und Ende des Deutschen Reichs von 1945 für die mittelalterlichen Kaiser nicht zum Erinnerungsfiasko. Geschichte als Argument verwandelte sich beständig. Schnell entdeckte das Nachkriegseuropa sein christliches Abendland und die alten Kaiser. Manchen diente das Heilige Römische Reich gar als Vorbild für die europäische Integration. Zu Recht blieben europäische Nachbarn skeptischer als einige Deutsche, die über dem freundlichen Konsensprinzip gerne die kaiserlichen Brutalitäten des Hochmittelalters vergaßen. Großausstellungen machten seit 1965 die Welt der Kaiser wieder lebendig: Karl der Große, die Staufer, die Wittelsbacher, die Salier, Otto der Große oder Heinrich II. Mittelalterliche Helden und Heldengeschlechter machten auf großen Präsentationendie ältere deutsche Geschichte interessant und sympathisch. Deutsche Schuld hatte die jüngere Geschichte zum Trauma erwachsen lassen. Darum boten alte Kaiser aus Glanz und Größe wenigstens etwas Zauber. Ihr Adler überdauerte als Wappentier alle deutschen Zäsuren. Sinnstiftung aus mittelalterlichen Vergangenheiten erfuhren vor allem die Bundesländer: Baden-Württemberg und die Staufer, Bayern und die Wittelsbacher, Rheinland-Pfalz und die Salier, Niedersachsen und die Welfen, Sachsen-Anhalt und die Ottonen.
Ausstellungen präsentierten seit 1965 einem Millionenpublikum Glanz und Größe mittelalterlicher Kaiser. Das Interesse hält an. 2006 dachte man an den Untergang des Heiligen Römischen Reichs
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