Die Karte der Welt (German Edition)
…«
»Ja«, sagte Wex. »Das hat sie. Sie scheint Euch sehr geliebt zu haben.«
Vills Hände zitterten. »Ich … fühle etwas«, stammelte er. »Trauer, Verlust. Ich fühle!«
Auch Kraven hatte jetzt begriffen. »Sie wurde von einem Vorfahren Eurer Düsterlinge vergewaltigt, der nicht unter den Schleier gefallen war«, sagte er mit kaltem Blick. »Arkh ist das Ergebnis und der Beweis.«
Wex beobachtete, wie Vill die Informationen verarbeitete. Schauer um Schauer durchfuhr ihn, während er die Puzzleteile der grausamen Geschichte zusammensetzte. Wie Steinwürfe trafen sie ihn, und er begann unkontrolliert zu zittern. Wex glaubte schon, Vill würde jeden Moment zusammenbrechen, doch stattdessen hob er die Hand und rief seinen Hauptmann zurück.
»Herr?«, fragte Eber, verwirrt über die plötzliche Veränderung, die in seinem Gebieter vorging.
Vill gab keine Antwort. Er spannte die Sehne seines Bogens und ließ los. Einmal, zweimal.
Eber taumelte. Pfeile ragten ihm aus Brust und Bauch.
Vill leerte seinen Köcher, spickte den verblüfften Düsterling mit gefiederten Schäften. Die scharfen Metallspitzen schnitten sich durch die Glieder des Kettenhemds und bohrten sich in das verwundbare Fleisch darunter. Eber sank auf die Knie.
Hinter Wex ertönte Fußgetrampel, und er wirbelte herum. Fretter kam mit gezogenem Schwert angerannt, gefolgt von Spärling und Adara. Erleichtert sah Wex, dass die Überreste des Düsterlingheers sich zerstreut hatten. Ohne jegliche Ordnung flohen die Kreaturen in alle Himmelsrichtungen, und der Hauptmann ließ sie ziehen, um Vill im Schatten des Schleiers zu stellen.
»Dies ist der Moment Eurer Niederlage!«, verkündete Fretter. »Eure Verbrechen sind schwer und vielfältig. Legt die Karte nieder und Euer Schwert!«
Vill keuchte, völlig erschöpft von dem Mord an seinem Offizier und dem Ausbruch an Emotionen. Langsam, als bereitete es ihm große Mühe, öffnete er seinen Schwertgurt und ließ die Karte fallen. Mit einem leisen, einsamen Scheppern fiel das Schwert zu Boden. Der Köcher mit der Karte kullerte vor Wex’ Füße wie ein Hund, der schwanzwedelnd auf sein lange vermisstes Herrchen zugehüpft kommt.
Vill blickte Fretter an. Er war geschlagen, aber seine Augen brannten jetzt mit einem neuen Feuer – dem Verlangen zu leben. Mit einer schnellen Bewegung drehte er sich um und ergriff die Flucht. Aber Wex hatte den Schleier nur ein winzig kleines Stück verschoben, und Vill hinkte. Nach weniger als einer Furchenlänge hatten sie ihn eingeholt, und er saß in der Falle zwischen seinen Verfolgern und dem Schleier.
Vill blieb stehen und fuhr herum. Er nahm es lieber mit Fretter und Spärling auf, als noch einmal die ewige Nacht des Schleiers ertragen zu müssen.
»Ich weiß, dass Ihr mich jetzt töten werdet«, sagte er. »Und ich füge mich in mein Schicksal, denn ich habe mein Ziel erreicht: Ich kann wieder fühlen. Ich bin wieder ein Mensch. Und hier und jetzt werde ich als solcher sterben.«
Rückhaltlos gab er sich den Tränen hin. Er weinte vor Kummer, vor Zorn und vielleicht sogar aus Liebe. Der Anblick war so herzergreifend, dass Wex beinahe vergaß, wie sehr er den Mann hasste.
Jemand sprang nach vorn, und zuerst glaubte Wex, es wäre Fretter, der den Düsterlingführer in Gewahrsam nehmen wollte. Aber Fretter hatte nicht dieses lange schwarze Haar, nicht diese gertenschlanke Figur, und er trug auch keine farbenfrohen Kleider, sondern einen schlichten Soldatenrock. Es war Adara, die sich mit ihrem vollen Gewicht auf Vill warf.
Vill schrie und wehrte sich nach Leibeskräften, während Adara ihn wild fluchend vor sich herschob, auf den Schleier zu.
Wex wollte ihr zu Hilfe eilen, aber Brynn hielt ihn zurück.
»Nein!«, schrie er.
Ein kurzes Wabern, dann waren Vill und Adara verschwunden.
Wex riss sich los und wollte nach der Karte zu seinen Füßen greifen. Noch in der Bewegung drehte er das Handgelenk, um zu sehen, ob noch Blut aus dem kleinen Schnitt kam, aber die Karte war weg. Wex blickte auf.
Kraven hatte sie aufgehoben und reichte sie gerade an Fretter weiter.
»Gebt sie mir!«, rief Wex.
»Nein. Keine Zeichnungen mehr.«
Wex wandte sich flehend an Fretter. »Aber, Hauptmann …«
Fretter zog den Riemen des Lederköchers um seine Schulter fest. »Bedaure. Aber die beiden sind unwiederbringlich fort«, sagte er. »Und das Letzte, was du gezeichnet hast, hat einen Drachen angelockt.«
Wex war verzweifelt.
»Er ist immer noch da«, fügte Fretter
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