Die Kastratin
»Wunderschön, Giulia. Wie du siehst, verbiete ich dir das Singen doch gar nicht. Ich will nur, dass du Lieder wählst, die sich für Mädchen und Frauen schicken.«
»So seichte Sachen wie das eben!« Giulia erschrak selbst über ihren heftigen Ausbruch und sah mit Tränen in den Augen, wie tief die Kritik ihren Vater traf. Für einen Augenblick hob er die Hand, als wolle er sie schlagen. Doch er riss ihr nur das Notenblatt aus der Hand und warf es in eine Ecke. »Du redest schon genau wie deine Mutter. Hat sie dich gegen mich aufgehetzt?« Fassis Stimme schwankte. Die Verzweiflung in seinem Blick zeigte Giulia, wie sehr er sich seiner Mittelmäßigkeit bewusst war. »Es tut mir Leid, Vater. Ich habe es nicht böse gemeint. Das Lied ist wirklich hübsch.« Giulia musste sich zu diesen Worten zwingen, denn sie schämte sich zu lügen.
Ihr Vater schenkte ihr ein müdes Nicken. »Ich werde es noch einmal überarbeiten. Vielleicht kannst du es später dem Grafen vorsingen, wenn er wieder in Saletto ist. Aber natürlich nur im privaten Kreis, sonst wäre es ungehörig.«
Giulia nickte gehorsam, wenn sie sich auch nicht vorstellen konnte, dass das Lied dem hohen Herrn gefallen würde. Dabei bemerkte sie den musternden, etwas enttäuscht wirkenden Blick ihres Vaters. Girolamo Fassi hatte gehofft, dass seine Tochter hübsch genug werden würde, um das Interesse des Grafen zu wecken, doch auch diese Hoffnung schien zu zerrinnen. Ihr Körperbau war zu stämmig, und ihre Schultern waren zu breit, um je die ätherische Eleganz jener Damen zu erreichen, die derzeit bei den hohen Herren in Mode waren. Gisiberto Corrabialli interessierte sich nicht für die Stimme einer Frau, sondern nur für ihr Aussehen. Giulia würde also kaum eine Chance haben, seine Aufmerksamkeit zu erregen.
In den vielen trüben Stunden hatte Girolamo Fassi sich oft damit getröstet, dass er die Gunst seines Herrn wieder gewänne, wenn seine Tochter dessen Mätresse würde. Seine Frau hätte sich über so einen sündhaften Vorschlag gewiss aufgeregt, aber ihn hätte ein solches Arrangement aller Sorgen und Nöte um sein Amt enthoben. Gott ist nicht gerecht, dachte er verbittert. Meine Söhne lässt er sterben, und die einzige Tochter gleicht eher einem Bauerntrampel, für den sich kein Herr von Stand interessieren wird.
Giulia wusste nicht, wie Unrecht ihr Vater ihr in Gedanken tat. Sie würde gewiss keine herausragende Schönheit werden, doch ein erfahrenerer Mann hätte erkennen können, dass sie sich zu einer hübschen, anziehenden Frau entwickeln konnte. Eine Weile stand sie still im Raum und hoffte, ihr Vater würde ihr noch einmal Gelegenheit geben, sich für ihre unpassende Bemerkung zu entschuldigen. Zudem brannten ihr einige Ideen auf der Seele, wie er sein Lied schwungvoller gestalten könnte. Sie merkte jedoch, dass ihm derzeit weder an ihrer Entschuldigung noch an ihrem Rat gelegen war. Gekränkt murmelte sie einen Abschiedsgruß und verließ das Zimmer.
Draußen traf sie die Magd, die eben den Korb mit der Bleichwäsche hereinschleppte. Giulia fasste sofort mit an und half ihr, den Korb abzusetzen. »Es tut mir Leid, Assumpta. Aber die Bleichwäsche hatte ich ganz vergessen.«
»Es ist ja nicht so schlimm, Kindchen. Du hast schon genug getan«, beruhigte die Dienerin sie und sah sie dann mit schief gelegtem Kopf an. »Das neue Laken war nicht ganz sauber. Dabei war ich mir sicher, es richtig ausgewaschen zu haben.«
Giulia nickte bedrückt. »Das war Ludovico. Er hat mit Dreck nach mir geworfen, weil ich gesungen habe.«
»Das war wohl wieder eines der Lieder aus dem Kloster, das du nicht singen solltest.«
Giulia senkte beschämt den Kopf. »Es ist mir einfach so über die Lippen gekommen. Weißt du, Assumpta, ich singe doch nicht aus Bosheit. Es kommt von innen heraus, ohne dass ich etwas dafür kann.«
Die Dienerin lächelte nachsichtig: »Du warst eben schon immer ein Singvögelchen. Ja, du hättest ein Junge sein sollen, anstelle des armen Pierino.«
Sie drückte Giulia kurz an ihre knochigen Rippen und strich ihr über das krause, schwarze Haar, das sich nur schwer in den Zöpfen bändigen ließ. »Bist schon ein armes Ding, mit einem Vater, der vor Angst halb umkommt, weil er fürchtet, die Gunst des Grafen zu verlieren, und einer Mutter, die mehr an ihr Seelenheil denkt, als es ihr und der ganzen Familie gut tut. Frau Maria vergisst ganz, dass nicht alle Freude gleichbedeutend mit Sünde sein muss. Wenn sie könnte, würde
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