Die Katastrophe
Und nur weil sie, Katie, nicht an so etwas glaubte, weil sie es als Aberglaube abtat wie den Altar im Schlafzimmer ihrer Mutter, hieß das noch lange nicht, dass sie es einfach mit Füßen treten konnte.
»Also, ich würde nie und nimmer mein Leben aufs Spiel setzen für meinen Großvater!« Debbies Stimme drang wieder in Katies Bewusstsein. »Und der ist noch nicht einmal siebzig. Aber Anas Großvater war schon über neunzig! Der wäre doch sowieso abgekratzt. Ob mit oder ohne Zauber.«
»Debbie! Für deine Empathie bekommst du im Semester bestimmt Extra-Credits«, seufzte Rose.
»Empathie für einen uralten Indianer? Ich bitte dich!« Debbie wechselte das Thema. »Wo ist eigentlich Paul hin? Bist du wirklich sicher, dass er nicht dort oben geblieben ist?« Sie lachte.
»Ist er immer noch nicht aufgetaucht?«, fragte Katie.
»Siehst du ihn irgendwo?«
Katie sprang auf und stieß den Stuhl zur Seite.
»Wo willst du denn hin, Katie?«, fragte Rose verwundert.
Und Debbie schrie ihr nach: »Kann ich deine Pommes haben?«
Auf dem Weg zu den Bungalows der Dozenten und Professoren, die hinter dem Westflügel des Collegegebäudes lagen, begegnete Katie niemandem.
Sie wusste nun, wo das Problem lag.
Nicht in den Geheimnissen selbst.
Sondern im Schweigen darüber.
Das war es, was Geheimnisse so gefährlich machte.
Hätte Ana darüber gesprochen, hätte sie gesagt, weswegen sie im größten Schneesturm verschwunden war, dann hätte Katie auch kapiert, was der Steinkreis für eine Bedeutung hatte. Sie hätte zwar immer noch gedacht, dass es so etwas wie Vodoo war, aber okay, damit hatte sie kein Problem. Schließlich hatte Sebastien jedes Mal, wenn er von einer Brücke gesprungen war, sich irgendeinen Vorsatz vorgenommen.
Er würde zum Asket werden. Aufhören, Alkohol zu trinken und zu rauchen. Sex ausgenommen, hatte er ihr einmal zugerufen, bevor er gesprungen war.
Ein anderes Mal hatte er sich geschworen, endlich seinem Vater die Wahrheit zu sagen, dass er von dessen Liaison mit der Botschaftssekretärin wusste.
Und an dem Tag, als das Seil gerissen war, da hatte er gerufen: »Mein Vorsatz für heute, Katie: Ich werde dich immer lieben!«
Die Sonne stand tief am Himmel und die weiß gestrichenen Bungalows färbten sich in der Abendsonne rot.
Sie hatte keine Ahnung, in welchem von ihnen Mr Forster wohnte, doch dann sah sie die Riesendogge Ike auf sich zukommen und dahinter erschien sein Herrchen, der Philosophieprof Mr Brandon.
Ike blieb stehen und blickte sie mit seinen Triefaugen an, während Mr Brandon sagte: »Katie West, wissen Sie eigentlich, wie viel Glück Sie dort oben hatten?«
Katie holte tief Luft.
Schweigen – nein, das war keine wirkliche Option. Nichts, was man sein Leben lang durchhalten konnte. Aber es bedeutete auch nicht, dass man jedem alles erzählen musste.
»Glück?«, sagte sie daher. »Nein. Glück war das nicht. Ich würde sagen, wir haben überlebt, weil wir nicht aufgegeben haben.«
Mr Brandon seufzte. »Warum war ich mir so sicher, dass Sie genau das sagen würden?«
»Vielleicht weil sie derselben Meinung sind, Mr Brandon? Und sich nur nicht trauen, es auszusprechen?«
Katie stieß Ike zur Seite und schob sich an dem Professor vorbei.
Nach einigen Metern wandte sie sich um. »Können Sie mir sagen, wo die Forsters wohnen?«
»Der letzte Bungalow links.«
Katie nahm den Schlangenkopf, der als Türklopfer diente, in die Hand und ließ ihn dreimal hintereinander gegen das Holz fallen.
Nur ein paar Sekunden später öffnete sich die Tür und Mr Forster stand vor ihr: »Miss West? Mit Ihnen hätte ich nicht gerechnet.«
»Ich möchte Paul sprechen.«
Er starrte sie stirnrunzelnd an.
»Wen?«
»Paul? Ist er nicht hier?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
Vielleicht gehörte Mr Forster zu der Spezies Eltern, die ihre missratenen Kinder lieber verstecken, als zuzugeben, dass sie einfach versagt hatten.
Und ich habe ihn geküsst – lag es Katie auf der Zunge, denn sie ahnte, dass das Mr Forster ziemlich in Rage bringen würde, doch stattdessen sagte sie: »Paul. Er war mit uns auf dem Ghost. Wir wollten zusammen von der Hütte absteigen, aber am Morgen, als ich aufwachte, war er verschwunden.«
»Was reden Sie da? Warum erzählen Sie mir das alles?«
»Warum? Weil ich denke, dass Sie am besten wissen, wo er ist.«
Mr Forster wurde ungeduldig und zunehmend nervös.
»Wo wer zum Teufel ist?«
»Paul! Ihr Sohn!«
»Mein Sohn?«
Mann, jetzt hatte er es
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