Die Kathedrale der Ketzerin
ich dir.«
Er schloss die Augen und hätte in friedlicher Stille sterben können,
hätte sich nicht der Kehle eines in entfernter Ecke knienden Mönchs ein
markerschütternder Schrei entrungen.
»Der Satan!«, kreischte er. »Ich sehe ihn! Ich rieche ihn!
Spürt ihr es denn nicht? Er ist hier unter uns! Er holt den König!«
Entgeistert sprang ein Kardinal auf den Kuttenträger zu. Der wand
sich in Krämpfen auf dem Boden und wehrte sich der Ergreifung mit ungeheurer
Kraft. Außer Ludwig, der völlig entrückt dem wächsern werdenden friedlichen
Antlitz seines Vaters volle Aufmerksamkeit schenkte, starrte jeder im Raum auf
den Mönch, dessen Augen sich so verdreht hatten, dass nur noch das Weiße sichtbar
war.
»Der heilige Dionysios!«, keuchte der Mönch. »Er naht. Groß ist
er, von heiligem Licht umgeben. Seine Augen funkeln wie Sterne. Er kämpft mit
dem Herrn der Finsternis. Er entreißt ihm den König! Er rettet ihn! Gott
sei gepriesen!«
Ein letztes Zucken, und dann befand sich der Mönch jenseits
jeglichen weltlichen und kirchlichen Eingreifens.
Der Kardinal nahm jedem der Anwesenden – außer Ludwig, natürlich –
den Schwur ab, über die Vision des Ordensmannes Stillschweigen zu bewahren.
Dennoch verbreitete sich die Kunde von der wundersamen Rettung des
Königs in allerletzter Sekunde wie ein Lauffeuer. Aus allen Himmelsrichtungen
strömte das Volk in die Kathedrale von Saint-Denis, um den Schutzheiligen der
Kirche für seinen Sieg über den Teufel zu lobpreisen und zu ehren. Welcher der
Anwesenden seinen Eid gebrochen hatte, war nicht mehr nachzuvollziehen und den
Kirchenmännern angesichts einer noch nie da gewesenen Flut an Spenden auch
durchaus gleichgültig.
Im großen, nahezu
dunklen Saal des Cité-Palasts wähnte sich Graf Theobald allein. Er griff zur
Drehleier und sang leise:
»Stuhl Petri vergoldet,
dank des Königs Vergehen;
die Wege des Herrn
sind schwer zu verstehen.«
Eine Bewegung schräg vor ihm ließ ihn innehalten. Sein
Blut gefror, als sich aus dem Schatten der Wand eine weibliche Gestalt löste. Wie
würde ihn Blanka, Herrin seines Herzens, für dieses Lied schelten, ihn
vielleicht sogar des Hofes verweisen!
»Kühne Worte, mein Herr«, erklang eine Stimme, die er noch nie
gehört hatte. Er sprang auf. Die Frau, tief verschleiert und erheblich fülliger
als Blanka, forderte ihn wieder zum Sitzen auf und ließ sich mit einem Seufzer
neben ihm nieder.
»Sagt, was bedeutet Euch des Königs Vergehen?«, fragte sie, als
eröffnete sie ein Gespräch belanglosen Inhalts.
Theobald erschrak. Jeder wusste um die große Sünde des Königs, aber
keiner benannte sie: Viele Jahre zuvor hatte der Monarch seine zweite
Gemahlin Ingeborg am Tag nach der Hochzeitsnacht ohne Angabe von Gründen
verstoßen, in einem Turm eingesperrt und Jahre später ohne kirchlichen Segen
Agnes von Meran geheiratet. Was dem ganzen Land einen jahrelangen Kirchenbann
beschert hatte – aber darüber durfte keinesfalls gesprochen werden. Schließlich
hatte sich der König dem Druck der Kirche gebeugt, Agnes fortgeschickt, die
darüber starb, und Ingeborg reumütig wieder anerkannt. Als rechtmäßige Königin
lebte sie fortan räumlich getrennt von ihrem Gemahl, mal in Orléans, aber
meistens in Corbeil. Nur sehr selten zeigte sie sich am Pariser Hof.
Theobald fing sich.
»Sein Tod geht mir sehr nah«, sagte er rasch. »Der geliebte Herr,
unser König, ist vergangen. Das ist leider nicht zu leugnen.«
Die Frau neben ihm gab ein Geräusch von sich, das wie leises Lachen
klang.
»Ihr seid findig, Graf Theobald«, sprach sie. »Das gefällt mir.« Mit
leiser Schärfe setzte sie hinzu: »Obgleich Ihr Euch gerade erst der gleichen
Sünde schuldig gemacht habt wie einst der selige König. Was hat Euch Eure
Gemahlin angetan? Oder wart Ihr ihrer einfach nur überdrüssig?«
Theobalds Unbehagen wuchs. Wer war diese Frau? Woher wusste sie,
dass er zwei Tage zuvor in Troyes seine Gemahlin Gertrud verstoßen hatte?
Kunde davon konnte Paris noch nicht erreicht haben. Blanka sollte es aus seinem
Mund erfahren; nur deshalb war er schnell wie ein Pfeil aus seiner Hauptstadt
an den Hof geeilt. Erst wenn ihn die angebetete Herrin, wie zugesagt, später am
Tag empfing, würde er sie über diesen Wechsel in seinem Leben aufklären. Mit
der Versicherung, seine Liebe gehöre nur ihr allein und sein Herz könne nicht
zwei Herrinnen dienen. Was zwar durchaus zutraf, aber für seine Entscheidung
weniger ausschlaggebend gewesen war
Weitere Kostenlose Bücher