Die Kathedrale des Meeres
ihn?«
»Nein … nein.«
Hatte sie ihn je gekannt? Eigentlich hatte sie kaum Erinnerungen an ihn. Sie war damals fast noch ein Kind gewesen!
»Werdet Ihr mir helfen, ihn zu finden?«, unterbrach Aledis erneut ihre Gedanken.
»Das werde ich«, beteuerte sie, während sie ihr den Ausgang des Zeltes wies.
Als Aledis gegangen war, schlug Francesca die Hände vors Gesicht. Arnau! Es war ihr gelungen, ihn zu vergessen. Sie hatte sich dazu gezwungen, hatte keine andere Wahl gehabt, und nun, zwanzig Jahre später … Wenn das Mädchen die Wahrheit sagte, dann wäre dieses Kind, das sie in ihrem Leib trug … ihr Enkel! Und sie hatte erwogen, es zu töten. Zwanzig Jahre! Wie er wohl war? Aledis hatte gesagt, er sei groß, stark und hübsch. Sie hatte keine Erinnerung an ihn, nicht einmal als Neugeborenen. Es war ihr gelungen, ihn in der warmen Schmiede unterzubringen, doch dann hatte sie ihren Jungen nicht mehr besuchen können. »Diese Schufte! Ich war fast noch ein Kind, und sie standen Schlange, um mich zu vergewaltigen!« Eine Träne rollte ihr über die Wange. Wie lange hatte sie nicht mehr geweint? Selbst damals, vor zwanzig Jahren, hatte sie nicht geweint. »Der Kleine ist bei Bernat besser aufgehoben«, hatte sie gedacht. Als Doña Caterina von der ganzen Sache erfuhr, hatte sie sie mit einer Ohrfeige davongejagt, und Francesca war zunächst unter der Soldateska herumgereicht worden und hatte dann von den Abfällen an der Burgmauer gelebt. Niemand begehrte sie mehr, und wie zahlreiche andere Unglückliche trieb sie sich zwischen Exkrementen und Abfällen herum, um sich um schimmelige, von Maden zerfressene Brotkanten zu streiten. Dort begegnete sie einem Mädchen, das wie sie im Unrat stocherte. Es war dünn, aber hübsch. Niemand gab auf die Kleine acht. Vielleicht … Sie bot ihr Essensreste an. Das Mädchen lächelte und seine Augen strahlten. Wahrscheinlich kannte es kein anderes Leben als dieses. In einem Bachlauf wusch sie die Kleine und schrubbte ihre Haut mit Sand ab, bis sie vor Schmerz und Kälte schrie. Dann musste sie sie nur noch zu einem der Bediensteten der Burg des Herrn von Bellera bringen. So hatte alles begonnen. »Ich bin hart geworden, mein Sohn, so hart, dass schließlich ein Panzer mein Herz umschloss. Was hat dir dein Vater über mich erzählt? Dass ich dich dem Tod überlassen habe?«
Als am Abend die königlichen Offiziere und jene Soldaten zum Zelt kamen, die Glück beim Würfeln oder Kartenspiel gehabt hatten, erkundigte sich Francesca nach Arnau.
»Der Bastaix, sagst du?«, antwortete einer von ihnen. »Natürlich kenne ich den. Jeder kennt ihn.« Francesca legte erwartungsvoll den Kopf zur Seite. »Wie man sich erzählt, hat er einen allseits gefürchteten Draufgänger besiegt«, erklärte er, »und Eiximèn d'Esparça, Gefolgsmann des Königs, hat ihn in seine Leibwache aufgenommen. Er hat ein Muttermal neben dem Auge. Man hat ihm beigebracht, mit dem Dolch umzugehen. Seither hat er noch einige Kämpfe bestritten und alle gewonnen. Es lohnt sich, auf ihn zu setzen.« Der Mann grinste. »Warum interessierst du dich für ihn?«, erkundigte er sich und grinste noch breiter.
Francesca überlegte. Es war schwierig, eine andere Erklärung zu finden. Sie zwinkerte dem Mann zu.
»Du bist zu alt für so einen Burschen«, lachte der Soldat.
Francesca ließ sich keine Regung anmerken.
»Bring ihn mir her und du wirst es nicht bereuen.«
»Wohin? Hierhin?«
Und wenn Aledis log? Ihr erster Eindruck hatte sie noch nie getrogen.
»Nein. Nicht hierhin.«
Aledis entfernte sich einige Schritte von Francescas Zelt. Es war eine wunderbare Nacht, sternenklar und warm, mit einem Mond, der die Nacht in ein gelbes Licht tauchte. Das Mädchen betrachtete den Himmel und die Männer, die in das Zelt traten und in Begleitung eines der Mädchen wieder herauskamen. Dann gingen sie zu einigen kleinen Verschlagen, die sie nach einer Weile wieder verließen, manchmal lachend, manchmal schweigend. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Anschließend gingen die Frauen jedes Mal zu dem Zuber, in dem Aledis gebadet hatte, und wuschen sich, wobei sie die Zuschauerin unverhohlen ansahen, so wie jene Frau, die vorbeizulassen ihre Mutter ihr damals verboten hatte.
»Weshalb werden sie nicht festgenommen?«, hatte Aledis damals ihre Mutter gefragt.
Eulàlia hatte ihre Tochter angesehen, während sie überlegte, ob Aledis alt genug war für eine Erklärung.
»Das geht nicht. König wie Kirche
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