Fesseln des Herzens
Prolog
Sommer 1286
W ehmütig blickte Nicole de Boisy aus dem Fenster der Kutsche. Der Wind zerrte an den langen schwarzen Haarsträhnen, die unter ihrem Schleier hervorschauten und wie duftige Bänder im Wind flatterten. Ihr Gesicht war blass wie eine Lilienblüte, und ihre Augen waren so dunkel wie die feuchte Erde, die auf den Äckern zwischen den Pflanzen schimmerte.
Nach Wochen des Regens, der nicht nur der Ernte der Bauern, sondern auch den Gemütern der Menschen heftig zugesetzt hatte, schien nun endlich wieder die Sonne. Ein herrlicher Duft nach Heu und reifen Früchten hing in der Luft. Vereinzelte Federwolken schmückten das tiefe Blau des Himmels, das mit den strahlend grünen und weizengelben Feldern wetteiferte.
Doch Nicole bemerkte die Schönheit der Natur nicht. In diesem Augenblick wünschte sie sich nur, mit den Vögeln fliegen zu können, die der donnernde Hufschlag der Pferde aus den Bäumen scheuchte. Aber das war unmöglich.
Sie befand sich auf dem Weg zu ihrem zukünftigen Gemahl, dem Baron of Ravencroft, einem Mann, den sie nur von einer Abbildung auf einer Holztafel kannte. Sein Reich lag etliche Meilen von ihrer Heimat entfernt an der Grenze zu Schottland.
Ein gottverlassener Ort, war das Erste, was Nicole in den Sinn gekommen war, als ihr Vater sie vor einigen Wochen davon unterrichtet hatte, dass ihre Ehe mit dem Baron arrangiert worden sei. Als sie vernommen hatte, wie alt ihr Gatte war, hatte sich wilder Zorn in ihr zusammengeballt.
Achtunddreißig Lenze! Das waren mehr als doppelt so viele, wie sie selbst zählte.
Trotz allem blieb ihr nichts anderes übrig, als sich dem Beschluss ihres Vaters zu fügen. Mit ihren achtzehn Lenzen war sie beinahe eine alte Jungfer, außerdem konnte sie als letzte Tochter des Grafen de Boisy froh darüber sein, nicht ins Kloster geschickt zu werden, wie es anderen jungen Frauen in ihrer Situation erging.
Seufzend lehnte sie sich auf dem harten Sitz zurück, den selbst die flauschigen Felle und dick mit Daunen gestopften Kissen, die sie mitgenommen hatte, nicht bequemer machten. Die Wege durch die Baronie Ravencroft waren völlig zerfahren, und so wusste Nicole nicht, ob ihr in diesem Augenblick mehr das Gesäß von der Kutsche oder ihre Seele vor Heimweh schmerzte.
»Ist Euch nicht wohl, Mylady?«, fragte Celeste, ihre Kammerfrau, die ihr bereits seit Kindertagen diente.
Das Mädchen war kaum älter als sie, hatte rotbraunes Haar und Sommersprossen auf dem gesamten Gesicht. Ständig hatte sie ein Auge auf ihre Schutzbefohlene und bemerkte selbst kleinste Veränderungen in ihrem Gemüt. Wahrscheinlich, weil sie von allen am meisten Nicoles Launen ausgesetzt war.
Als die Grafentochter von der bevorstehenden Hochzeit erfahren hatte, hatte sie einen Tobsuchtsanfall bekommen und mehrere Gegenstände nach ihr geworfen. Die Narbe, die eine der Haarbürsten an Celestes Stirn hinterlassen hatte, war noch immer zu sehen.
Dennoch versuchte sie, es ihrer Herrin in allen Dingen so recht wie möglich zu machen.
»Wie soll mir wohl sein?«, fuhr Nicole sie an. »Immerhin werde ich heute ins Joch gespannt!«
Celeste, die spürte, dass ein neuerlicher Wutanfall am Heraufziehen war, senkte schnell den Blick. »Vielleicht ist Euer Gemahl ja doch ein guter Mann«, wisperte sie.
Nicole hob die feingeschwungenen Brauen. »Gewiss ist er das. So gut, dass ich vor Langeweile sterben werde!«
»Er hatte bereits zwei Gemahlinnen«, wandte Manon ein, die der Grafentochter als Zofe diente. »Jedenfalls hat Peter das behauptet. Er wird also wissen, was Frauen Vergnügen bereitet.«
Peter war der Kurier des Barons. Dementsprechend weit kam er im Land herum und schnappte hier dieses und dort jenes auf. Was er berichtete, stimmte meist.
»Vergnügen!«, stieß Nicole spöttisch aus. »Die beiden armen Weiber sind gestorben! Wahrscheinlich vor Langeweile.«
»Ich glaube eher, dass sie im Kindbett verschieden sind«, wandte Celeste ein, doch als sie bemerkte, dass sich die Miene ihrer Herrin verfinsterte, fügte sie schnell hinzu: »Das wird Euch nicht passieren, schließlich kommt Ihr aus einem guten Haus, Mylady. Ihr werdet dem Baron sicher viele kräftige Nachkommen schenken.«
Nicole presste trotzig die Lippen zusammen. Unter einer Ehe hatte sie sich etwas anderes vorgestellt.
Vor Monaten hatte sie einmal heimlich beobachtet, wie es eine der Mägde mit einem Stalljungen getan hatte. Er hatte sich schnell und kräftig zwischen ihren Schenkeln bewegt, und die Laute,
Weitere Kostenlose Bücher