Die Kathedrale des Meeres
dem Palast baumelten.
»Nein! Vater!«
Der Schrei hallte über den ganzen Platz. Die Leute drehten sich zu ihm um. Arnau ging langsam durch die Menge, die ihm Platz machte. Er sah sich die zehn Männer genau an …
Arnau übergab sich, als er den Leichnam seines Vaters entdeckte. Die Leute ringsum traten einen Schritt zurück. Der Junge betrachtete noch einmal das aufgedunsene, bläulich-schwarz verfärbte Gesicht. Bernats Kopf war zur Seite gefallen, die Gesichtszüge verzerrt, die weit aufgerissenen Augen waren aus den Höhlen getreten, und die Zunge hing schlaff zwischen den Lippen. Als Arnau ihn zum zweiten und dritten Mal ansah, spuckte er nur noch Galle.
Arnau bemerkte, wie sich ein Arm um seine Schultern legte.
»Lass uns gehen, mein Sohn«, sagte Pater Albert zu ihm.
Der Priester versuchte ihn in Richtung Santa María zu ziehen, doch Arnau rührte sich nicht von der Stelle. Er betrachtete erneut seinen Vater, dann schloss er die Augen. Er würde nie wieder Hunger leiden. Der Junge krümmte sich unter Krämpfen zusammen. Pater Albert versuchte noch einmal, ihn von dem makabren Schauspiel wegzuziehen.
»Lasst mich, Pater. Bitte.«
Unter den Blicken des Priesters und der übrigen Anwesenden legte Arnau schwankend die wenigen Schritte zurück, die ihn von dem improvisierten Blutgerüst trennten. Er presste die Hände auf den Magen und zitterte am ganzen Körper. Als er vor seinem Vater stand, blickte er zu einem der Soldaten, die bei den Gehenkten Wache hielten.
»Kann ich ihn abnehmen?«, fragte er ihn.
Der Soldat zögerte angesichts des Blicks dieses Jungen, der dort vor dem Leichnam seines Vaters stand und zu diesem hinaufdeutete. Was hätten seine Söhne getan, wenn man ihn gehängt hätte?
»Nein«, sagte er schließlich. Er wünschte sich, nicht dort zu sein. Lieber hätte er gegen eine ganze Maurenarmee gekämpft. Was war das für ein Tod? Dieser Mann hatte es nur für seine Kinder getan, für diesen Jungen, der ihn nun fragend ansah, wie alle Anwesenden auf dem Platz. Warum war der Stadtrichter nicht hier?
»Der Stadtrichter hat angeordnet, dass sie drei Tage hier auf der Plaza zur Schau gestellt werden«, sagte er schließlich.
»Ich werde warten.«
»Danach werden sie vor die Stadttore gebracht, wie jeder Hingerichtete in Barcelona, damit alle, die dort ein und aus gehen, das Gesetz des Stadtrichters kennenlernen.«
Der Soldat kehrte Arnau den Rücken und begann seine Runde.
»Es war der Hunger«, hörte er hinter sich. »Er hatte nur Hunger.«
Als ihn seine sinnlose Runde erneut zu Bernat führte, saß der Junge zu Füßen seines Vaters auf der Erde. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und weinte. Der Soldat wagte es nicht, ihn anzusehen.
»Lass uns gehen, Arnau«, sagte der Pater, der nun wieder neben ihm stand.
Arnau schüttelte den Kopf. Pater Albert wollte etwas sagen, doch ein Schrei hielt ihn davon ab. Die Angehörigen der übrigen Gehängten begannen auf dem Platz einzutreffen. In einem fassungslosen Schweigen, das nur hin und wieder von einem schmerzlichen Aufschrei übertönt wurde, versammelten sich Mütter, Kinder und Geschwister zu Füßen der Toten. Der Soldat konzentrierte sich auf seine Runde, während er sich an den Schlachtruf der Ungläubigen zu erinnern versuchte. Joan, der auf dem Nachhauseweg über den Platz musste, sank ohnmächtig zusammen, als er das entsetzliche Schauspiel sah. Ihm blieb nicht einmal Zeit, Arnau zu entdecken, der immer noch am selben Platz saß und den Oberkörper vor- und zurückwiegte. Joans Klassenkameraden hoben ihn auf und trugen ihn zum Bischofspalast zurück. Auch Arnau sah seinen Bruder nicht.
Die Stunden vergingen, und Arnau hatte immer noch keinen Blick für die Bürger, die aus Mitleid, Neugier oder Schaulust auf die Plaza del Blat strömten. Nur die Schritte des Soldaten, der vor ihm auf und ab ging, rissen ihn aus seinen Gedanken.
»Arnau, ich habe alles aufgegeben, was ich besaß, damit du frei sein kannst«, hatte sein Vater vor nicht allzu langer Zeit zu ihm gesagt. »Ich habe unser Land verlassen, das den Estanyols über Jahrhunderte gehörte, damit niemand dir antun kann, was man mir angetan hat, meinem Vater und dem Vater meines Vaters … Und nun befinden wir uns wieder in der gleichen Lage: den Launen jener ausgeliefert, die sich adlig nennen. Aber mit einem Unterschied: Wir können uns weigern. Mein Sohn, lerne die Freiheit zu nutzen, die zu erlangen uns so viele Opfer gekostet hat. Die Entscheidung liegt nur
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