Die Kinder des Kapitän Grant
Gefühle durchwogten ihre Seele bei dem Gedanken, daß neue Versuche, Harry Grant aufzufinden, unternommen werden sollten, und daß des jungen Kapitäns Ergebenheit wirklich ohne Grenzen sei.
»Herr John hofft also noch? fragte sie.
– Ja, antwortete Robert. Er ist ein Bruder, der uns nie verlassen wird. Ich werde Seemann werden, nicht wahr, Schwester, Seemann, um mit ihm meinen Vater aufzusuchen. Du willst es gewiß?
– Ach, ob ich es will! antwortete Mary. Aber uns trennen! setzte sie heimlicher hinzu.
– Du wirst nicht allein sein, Mary; das weiß ich. Mein Freund John hat es mir gesagt. Madame Helena wird nicht zugeben, daß Du sie verläßt. Du bist ein Weib; Du kannst, Du mußt Wohlthaten annehmen. Sie abzuschlagen wäre undankbar. Ein Mann aber, der Vater hat es mir hundertmal gesagt, ein Mann muß seines Glückes Schmied sein!
– Was wird aber aus unserem an Erinnerungen so reichen Hause in Dundee?
– Das erhalten wir uns, Schwesterchen. Alles das ist durch unseren Freund John und auch durch Lord Glenarvan wohl vorgesehen. Dieser wird Dich wie eine Tochter auf seinem Schlosse behalten. Der Lord hat es meinem Freunde John und dieser es wieder mir mitgetheilt. Dort wirst Du ganz zu Hause sein, wirst von unserem Vater sprechen können und die Zeit erwarten, bis wir ihn eines Tages zurückbringen. O, das wird ein herrlicher Tag sein! rief Robert, dessen Antlitz von Enthusiasmus strahlte.
– Mein Bruder! Mein Kind! antwortete Mary, wie glücklich wäre unser Vater, könnte er Dich hören. Wie gleichst Du ihm, Robert, diesem herzlich geliebten Vater. Wenn Du groß bist, wirst Du ganz sein Ebenbild sein!
– Gott hört Deine Worte, Mary, sagte Robert, der vor frommem kindlichen Stolze erröthete.
– Doch wie sollen wir das Lord und Lady Glenarvan je vergelten? nahm Mary wieder das Wort.
– O, das ist nicht zu schwer! rief Robert in leichter Jugendhoffnung. Man liebt sie, verehrt sie, sagt es ihnen, umarmt sie, und geht, wenn es sein muß, für sie in den Tod.
– Lebe lieber für sie! rief das junge Mädchen, das die Stirn des Bruders mit Küssen bedeckte, – das wird ihnen noch lieber sein, und mir auch.«
Die Kinder des Kapitäns versanken in unbestimmte Träumereien und schauten schweigend in die unergründliche Finsterniß der Nacht hinaus. In Gedanken aber plauderten sie, fragten sich und gaben Antwort. Das ruhige Meer bewegte sich in langen Wellen, und leuchtend wirbelte das Kielwasser hinter der Schraube.
Da trat ein sonderbares und scheinbar übernatürliches Ereigniß ein. Bruder und Schwester hatten, wie durch magnetische Einwirkung auf Beider Seele, ganz gleichzeitig ein und dieselbe Sinnestäuschung.
Aus der Mitte dieser abwechselnd dunkeln und leuchtenden Wellen glaubten Robert und Mary eine Stimme in ihr Ohr schallen zu hören, deren tiefer und klagender Ton alle Fasern ihres Herzens erzittern machte.
»Zu Hilfe! Hierher! rief diese Stimme.
– Mary, rief Robert, hast Du es gehört? Du mußt es gehört haben.«
Sie streckten sich über den Oberbalken hinweg und forschten Beide übergeneigt in dem Dunkel der Nacht.
Doch Nichts sahen sie, als den Schatten, der sich endlos vor ihnen ausdehnte.
»Robert, sagte Mary, welche völlig erbleicht war, ich glaubte … ja, ich glaubte ebenso, wie Du … Doch wir fiebern Beide, Robert!«
Da hörten sie einen erneuten Zuruf, bei dem ihre Illusion eine derartige war, daß sie wie aus einem Munde: »Mein Vater! Mein Vater!« ausriefen.
Das war für Mary Grant zu viel. Von ihrer Erregung übermannt sank sie ohnmächtig in Roberts Arme.
»Zu Hilfe! schrie Robert. Meine Schwester! Mein Vater! Zu Hilfe!«
Der Mann vom Steuer lief herbei, das junge Mädchen aufzuheben. Die wachthabenden Matrosen sprangen hinzu, und dann John Mangles, Lady Helena und Glenarvan, welche schnell wieder aufgestanden waren.
»Meine Schwester stirbt und mein Vater ist dort!« rief Robert und zeigte auf das Wasser hinaus.
Niemand verstand seine Worte.
»Ja wohl, wiederholte er, dort ist mein Vater; ich habe seine Stimme gehört und Mary auch.«
Eben kam auch Mary Grant wieder zu sich und rief verwirrt, fast irrsinnig, aus:
»Mein Vater! Dort ist mein Vater!«
Das unglückliche junge Mädchen erhob sich, beugte sich über den Oberbalken und wollte sich in’s Meer stürzen.
»Mylord! Madame Helena! wiederholte sie händeringend, ich sage Ihnen, daß mein Vater dort ist. Ich versichere Ihnen, daß ich seine Stimme aus den Wellen herausgehört habe, wie eine
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