Die Kinder von Avalon (German Edition)
Enge war nicht mehr auszuhalten. Gunhild holte tief Luft, dann zog sie ihren Anorak über, den sie achtlos über den Stuhl geworfen hatte, und trat hinaus auf den Gang.
»Bis gleich.«
Der Innenhof, von den beiden Seitengebäuden eingefasst, lag verlassen da wie zuvor. Der graue Volvo, mit dem sie hergekommen waren, stand auf dem geharkten Kies wie ein Fremdkörper, etwas, das nicht hierher gehörte. In den Scheiben spiegelte sich der dunkelnde Himmel mit ziehenden Wolkenfetzen.
Unwillkürlich ging Gunhilds Blick zu dem Wirtshausschild hoch. Es schwankte immer noch leise im Wind, mit einem fast unhörbaren rostigen Krieken. Das Schild war nicht einmal besonders kunstreich bemalt, eher naiv, mit kräftigen, ein wenig verwitterten Farben. Aus der Nähe war deutlicher zu erkennen, was es darstellte. Eine menschliche – oder menschenähnliche – Gestalt mit Armen und Beinen, die aus lauter grünen Blättern zusammengesetzt war. Ihre Gliedmaßen waren steif wie die einer Vogelscheuche. Statt der Hände hatte sie Bündel von Zweigen. Und wo der Kopf war, befand sich ein blühender Busch. Haare, Nase und Mund waren aus Blüten gebildet, und wo die Augen hätten sein sollen, da war – nichts. Nur Schwärze.
Gunhild wandte sich um und floh.
Ihr Weg führte durch eine Lücke, die sich zwischen dem Haupthaus und dem Pub auftat und die sie vorher gar nicht bemerkt hatte. Zur Linken war ein Garten abgetrennt, Bretterverschläge, hinter denen Federvieh aufstob, als sie vorbeirannte. Zur Rechten stieg ein Rasen mit Blumenbeeten zu den umliegenden Hügeln an. Dahinter war freies Feld. Oder was man hier dafür hielt. Büsche und Bäume gab es genug, hohes, struppiges Gras und Steine ebenso. Schon bald hatte sich Gunhilds wilder Lauf zu einem unregelmäßigen Trab verlangsamt, da sie darauf achten musste, nicht zu stolpern. Die Bäume lauerten rechts und links in der Dämmerung wie lebendige Wesen. Fast hatte sie Angst, es könnte wirklich aus einem Busch der Grüne Mann hervortreten, um sich mit abgehackten Bewegungen zu nähern. Wie ein Zombie in einem schlechten Horrorfilm. Sie schauderte.
Doch es war nicht nur der Gedanke, der sie schaudern ließ. Es lag etwas in der Luft, ein Singen wie ein pulsierender Ton, der so tief war, dass das menschliche Ohr ihn nicht verarbeiten konnte. Oder wie eine elektrische Spannung, die sich in einem plötzlichen Blitz entladen würde.
Dann öffnete sich vor ihr der Weg, und sie trat hinaus ins Freie.
Unmittelbar voraus erhob sich ein kahler Hügel. Kein Busch wuchs darauf, nur Dornengestrüpp und halb verdorrtes Farnkraut. Doch zwischen den harten Gewächsen erhoben sich andere Formen, wie Früchte, welche eine unbarmherzige Erde in grauer Vorzeit hervorgebracht hatte. Es waren Felsblöcke, große Steine, die einen Kreis bildeten. Ein paar von ihnen waren umgestürzt, aber die meisten standen noch mehr oder weniger aufrecht. Einige der stehenden Steine reichten ihr bis zur Schulter, andere waren nicht ganz so groß; dennoch hatte Gunhild das Gefühl, als würden die Felsen mit jedem Schritt, den sie näher kam, höher und gewaltiger aufragen.
Der Pfad, dem sie gefolgt war, führte genau zwischen zwei der Steine hindurch. Die Luft, die dazwischen stand, schien zu flimmern. Eingerahmt von den beiden Felsblöcken erhob sich, in der Mitte des Kreises, ein weiterer Stein, ein Findling, größer als alle anderen und mit seltsamen Zeichen bedeckt. Er stand schief, sodass es so aussah, als müsste er jeden Moment umkippen. Die letzten Strahlen der tief stehenden Sonne streiften seine Spitze und ließen die Flechten auf seiner Oberläche aufleuchten wie eine Krone aus Gold.
Carn Du.
Sie wusste nicht, woher ihr der Name dieses Ortes plötzlich in den Sinn kam. Aber mit einem Mal stand ihr vor Augen, was in jenem Prospekt zu lesen gewesen war, den sie mit den Reiseunterlagen erhalten hatten.
Am Rande des Ortes … ein noch vollständig erhaltener megalithischer Steinkreis … Den zentralen Menhir in der Mitte nennen die Einheimischen den Einhornstein, weil er in seiner Form an das Horn des legendären Tieres erinnert …
Gunhild ging weiter. Jeder Schritt schien ihr schwerer zu fallen, als setzte die Luft selbst ihr Widerstand entgegen. Doch statt ihr noch mehr Angst zu machen, weckte dies auf seltsame Weise ihren Trotz. Wollte sie etwa jemand – oder etwas – daran hindern, weiterzugehen?
Ihre Hand ging zu dem Anhänger, den sie um den Hals trug. Der geschliffene Kristall schmiegte sich
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