Die Kinder von Avalon (German Edition)
Brand nahm ihr den Atem. Der Kristall, der auf ihrer Brust hing, strahlte die Hitze zurück, die sie von allen Seiten umgab. Er brannte so heiß, dass Gunhild, die den Stein noch immer umklammert hielt, ihn mit einem Aufschrei losließ.
Der Kristall schien gewachsen zu sein; zumindest erschien er ihr größer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Keine geschliffene Träne aus Glas, sondern ein funkelndes Juwel, das die Flammen des Buschfeuers in sich einfing und in seinem roten Herzen sammelte. War es nur der Widerschein der Glut oder hatte sich die einfache Silberkette, an der er gehangen hatte, wirklich zu einem Band aus schwerem, gedrehtem Gold gewandelt?
Gunhild schwindelte. Der große Felsblock, der vor ihr aufragte, schien in dem flackernden Schein zu verschwimmen. Die Spiralen und Ornamente, die seine Oberfläche bedeckten, wanden und drehten sich und lösten sich auf, wie ein Gewebe, das sich entflicht, wenn der Kettfaden durchschnitten wird. Gunhild konnte nicht mehr hinsehen. Sie schloss die Augen.
Die Feuersbrunst brandete über sie hinweg und erlosch. Stille trat ein. Selbst das Knistern, das den Steinkreis erfüllt hatte, war verstummt. Dafür erwachten die nächtlichen Geräusche der Natur: das Rascheln in den Bäumen, das Huschen im Gebüsch; irgendwo in weiter Ferne der Schrei eines Käuzchens.
Gunhild öffnete die Augen. Und was sie sah, erfüllte sie mit solch wundersamem Staunen, dass sie keine Worte dafür fand.
Der Stein in Zentrum des Kreises, der unmittelbar vor ihr gestanden hatte, unverrückbar und fest, war verschwunden. An seiner Stelle stand das schönste Geschöpf, das sie je in ihrem Leben gesehen hatte.
Sein glattes Fell schimmerte wie Seide. Seine Mähne war lang und weich; eine sanfte Brise spielte darin, die von einem fernen Sommer kündete. Seine Augen waren groß und blau wie der Himmel und funkelten wie Edelsteine. Aus seinen fein geschnittenen Nüstern stob ein Dunst, der wie Diamanten glitzerte, und wenn es den schlanken Kopf hochwarf, spielte das Licht auf dem gedrehten Horn, das aus seiner Stirn emporwuchs.
Das Einhorn senkte den Kopf und sah Gunhild an.
In seinem Blick lag die ganze Unschuld, die nur einem Wesen eigen ist, das geboren wurde, als die Welt noch neu und jung war. Ein solches unerschütterliches Vertrauen war darin zu lesen, dass Gunhild Tränen in die Augen traten. Wie durch einen Schleier sah sie das Wesen auf sich zutreten. Sein nadelspitzes Horn, scharf wie die Hörner eines Stieres, war nur noch eine Handbreit von ihrem Gesicht entfernt.
Und da bekam sie es mit der Angst zu tun. Nein, Angst war das falsche Wort; es war vielmehr eine tief sitzende Unsicherheit. Das Einhorn war so rein und schön, dass es nicht in diese Welt hineingehörte, und sie … sie war nicht würdig, ihm hier gegenüberzustehen, als wären sie von gleicher Art.
Sie erinnerte sich, dass sie einmal gelesen hatte, nur eine Jungfrau könne das Einhorn zähmen …
Das Einhorn hob den Kopf. Die Welt, die den Atem angehalten hatte, begann wieder zu fließen. Wind spielte in der seidigen Mähne, bauschte sie auf. Ein Heulen lag im Wind wie von fernen Stimmen.
Erschreckt warf das Einhorn den Kopf zurück. Muskeln spannten sich unter der schimmernden Haut, als das Tier mit einem Aufblitzen des Horns davonsprang und floh.
»Nein! Bleib hier! Lauf nicht fort!«, rief Gunhild.
Doch der magische Augenblick war vorbei. Was zwischen ihnen gewesen war, würde nie wieder so sein; es war unwiederbringlich verloren.
»Neeiiin!«
Wie ein gejagtes Wild hetzte das überirdische Wesen hin und her. Und jetzt hörte Gunhild es auch. Es war nicht nur der Wind, der zwischen den Steinen heulte. Die Laute kamen von ferner her. Es war ein Heulen wie von einer Meute auf der Jagd, von Hunden …
… oder von Wölfen?
Es gibt keine Wölfe in England, sagte sich Gunhild, wie um sich selbst Mut zu machen. Doch sie war sich nicht sicher, ob sie noch in England war.
Der Steinkreis lag im Dunkeln. Ein letztes Flackern umspielte die vom Brand geschwärzten Felsen. Die Steine, die zuvor in den unterschiedlichsten Winkeln gestanden oder gelegen hatten, ragten gerade wie Pfeiler in den Nachthimmel empor. Wolkenfetzen, von Licht gerändelt, zogen vor der silbernen Scheibe des Mondes vorbei, dessen Glanz die Nacht erhellte.
Als sie hierher gekommen war, hatte kein Mond geschienen.
Das helle Fell des Einhorns schimmerte zwischen den Steinen. Von ferne – nein, näher schon, viel zu nahe – drang das Knacken von
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