Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
ihm gesagt?«
»Nichts.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete sie gereizt, nicht zuletzt wegen der Kälte. »Er hat nicht angefangen, weil er das nie tut, nicht wahr? Jetzt hör mir zu, Gorian. Du darfst niemals, niemals wieder deine Brüder oder deine Schwester schlagen. Du darfst überhaupt niemanden schlagen. Wenn ich noch einmal höre oder sehe, dass du jemanden schlägst, dann darfst du nicht mehr weiterlernen.«
Er wollte sich ihr entziehen; auf einmal trat ein Funke der Angst in seine Augen, und er war den Tränen nahe. Sie hielt seine Hand fest.
»Verstehst du das?« Er nickte, seine Augen wurden feucht. »Dann lerne, dich zu benehmen. Jetzt geh und entschuldige dich bei Ossacer, und dann steig auf den Wagen. Ich will nichts mehr von dir hören, bis wir wieder in der Villa sind.«
Damit ließ sie ihn seufzend los.
»Wütende kleine Jungs«, sagte Lucius. »Ihm ist nur kalt.«
Hesther schüttelte den Kopf. »Du hast sicher recht.«
Herine musste sich Mühe geben, eine unverbindliche Miene aufzusetzen und äußerlich entspannt zu wirken. Auf beiden Seiten der Primatkammer ertönten Rufe, und die Abgeordneten fuchtelten mit Papieren herum. Männer und Frauen waren aufgesprungen, zeigten mit Fingern aufeinander und stießen Vorwürfe aus. Der Zorn richtete sich auf Marschallverteidiger Thomal Yuran aus Atreska. Das neueste Mitglied der Konkordanz war ohnehin eine umstrittene Gestalt, da sein Land am Rande eines Bürgerkriegs stand. Herines Ankündigung weiterer Feldzüge hatte ihn zornig aufspringen lassen.
Sie wartete und sah zu, wie er die Rufe seiner Widersacher beantwortete und hin und wieder zu ihr schaute, ob sie nicht Schweigen gebieten sollte. Er hätte eigentlich wissen sollen, dass sie dies nicht tun würde. Seine eigenen Worte hatten den Ausbruch provoziert, er selbst war die Ursache. Nach einer Weile ließ der Lärm nach, und Herine hob gelassen eine Hand. Alle bis auf Yuran setzten sich wieder. Er blieb stolz stehen, unter seinem ergrauenden Haar funkelten seine großen braunen Augen. In der formellen Toga, einem Kleidungsstück, das man in Atreska nicht kannte, fühlte er sich sichtlich unwohl.
»Marschall Yuran, es war eine Nachlässigkeit von mir, Euch nicht offiziell in der Primatkammer der Estoreanischen Konkordanz zu begrüßen. Ich bitte Euch um Verzeihung und heiße Euch nunmehr willkommen.«
Ironische Jubelrufe ertönten, dann erhob sich Applaus. Die Atmosphäre entspannte sich, und der Marschall lächelte sogar. Sein estoreanischer Konsul, der neben ihm saß, sprach einige ermunternde Worte.
»Danke, meine Advokatin«, erwiderte er.
»Es war vielleicht auch eine Nachlässigkeit meinerseits, Euch nicht früher über unsere Absichten zu unterrichten, obwohl ich anmerken muss, dass eben diese Neuigkeiten die geschätzten Marschälle von Gestern und Gosland keineswegs aufspringen ließen.«
»Bei allem gebührendem Respekt, meine Advokatin, die Lage in Gestern und Gosland ist ganz anders als bei uns. Nach einem erbitterten Krieg sind wir gerade erst in die Konkordanz aufgenommen worden. In diesem Krieg wurden Legionen aus allen früheren Nachbarländern gegen uns ins Feld geschickt. Das Gedächtnis der Menschen in meinem Land ist lang, und viele werden sich nicht für unsere Sache gewinnen lassen.«
Er hielt inne, als sich abermals Gemurmel erhob.
»Meine geehrten Mitglieder der Primatkammer«, fuhr er schließlich fort. »Ich entschuldige mich für meinen heftigen Ausbruch, aber nicht für dessen Anlass. Atreska und seine Bürger lernen gerade erst, sich mit dem Anblick des Wappens der Konkordanz und mit den Legionen abzufinden, die in jedem Winkel des einst unabhängigen Königreichs stationiert sind. Sie lernen gerade erst, mich als Marschallverteidiger der Konkordanz in der Position zu sehen, die einst ihr König eingenommen hat. Viele sind ihm immer noch treu ergeben und wären ihm mit Freuden in den Tod gefolgt.
Die inneren Schwierigkeiten, vor denen wir stehen, sind beispiellos in der Geschichte der Konkordanz. Und selbst wenn ich meine persönlichen Ansichten über eine Invasion von Tsard zurückstelle, so müsst Ihr doch erkennen, wie eng Atreska diesem Königreich verbunden ist.«
»Genau genommen«, sagte Herine, »würde ich sogar sehr gern erfahren, was Ihr über diese Invasion denkt. Nach den Vorträgen von Schatzkanzler Jhered und Marschall Vasselis scheint Ihr mit Euren Einwänden nicht ganz allein zu stehen. Bitte sprecht, da Ihr schon einmal
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