Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
verlassen.
»Wir sind uneins«, übertönte sie das Stimmengewirr. »Bei Gott dem Allwissenden, wir sind uneins. Die Mehrheit, die sich für die Expansion nach Tsard ausgesprochen hat, ist zu klein und nicht tragfähig. Wie es das Gesetz erlaubt, soll die Entscheidung deshalb unter Gottes Augen von denen getroffen werden, die ich ernannt habe, um das Wort und das Gesetz Gottes zu verkünden. Felice, Ihr habt das Wort.«
Sie winkte der Kanzlerin Felice Koroyan, die sich anmutig erhob. Der Orden beteiligte sich nicht an Abstimmungen über Staatsangelegenheiten und trat als Ratgeber nur dann in Erscheinung, wenn es zu einem Patt kam. Dieses letzte Wort hatte der Senat stets respektiert.
»Meine Advokatin, ich bin überrascht, dass die Abstimmung unentschieden ausging, während für mich die Angelegenheit völlig klar ist. Der Orden breitet sich aus, indem er in der Konkordanz und darüber hinaus Gottes Weisheit verkündet. Allerdings breitet er sich schneller aus, wenn neue Länder erobert werden. Wir verlangen nicht, dass andere sich unserem Glauben anschließen«, Vasselis hustete vernehmlich, »noch verlangen wir, dass irgendjemand unserem Glauben blindlings folgt. Wir wollen nur die Gelegenheit bekommen, allen Völkern die Augen zu öffnen, damit sie die Pracht und Gnade des Allwissenden Gottes erkennen. Der beste Weg, um die Stabilität in Atreska zu fördern, besteht darin, die Verbreitung des Glaubens an den Allwissenden in einem Volk zu fördern, das am tsardonischen Glauben festhält, welcher doch nichts weiter ist als Götzenanbetung.
Der schnellste Weg, sie von ihrer tsardonischen Vergangenheit zu befreien, besteht wiederum darin, Tsard in die Konkordanz aufzunehmen und sie alle unter Gottes Segen zu vereinen. Expansion ist nicht nur der Wunsch der Konkordanz, sondern auch unsere Pflicht. Wir schließen uns der Advokatur an.«
Als die Jubelruhe und Buhrufe anschwollen, sah Herine, wie Yuran die Hände vors Gesicht schlug. Bald würde er den Weg erkennen. Mit einem Nicken dankte sie Kanzlerin Koroyan, die vermutlich auf diese Anerkennung gewartet hatte. Das war jedoch nicht der Fall. Vielmehr starrte sie mit unverhohlener Abscheu Marschallverteidiger Vasselis an.
Herine schüttelte den Kopf. Eines Tages, wenn sie die Zeit dazu fand, musste sie herausfinden, was auf Gottes Erde da nur im Gange war. Bis dahin musste sie jedoch neue Heere aufstellen und einen Kriegsplan entwerfen.
Tsard war ein höchst gefährlicher Gegner.
4
842. Zyklus Gottes, 10. Tag des Solasauf
9. Jahr des wahren Aufstiegs
R ittmeisterin Dina Kell führte ihre Kavalleriekompanie in scharfem Tempo durch das lichte Waldland bis zum östlichen Ende des Tals, während Pavel Nunan dreihundert leichte Infanteristen der Zweiten Legion im Laufschritt zum näher gelegenen westlichen Ende verlegte. Unterdessen stießen auch die Triarii vor und erkletterten den steilen Hang im Süden, um die beweglicheren Feinde an der Flucht zu hindern.
Nur zehn Meilen von der tsardonischen Grenze entfernt griffen atreskanische Rebellen eine kleine Festung an. Es handelte sich nur um einen vorgeschobenen Posten mit einer Unterkunft für die Wachmannschaften und Schlafsälen für die Arbeiter, die eine Hauptstraße bis zur Grenze vorantreiben sollten. Außerdem lag der Posten recht isoliert am Ende eines dicht bewaldeten Tals. Die Zweite Legion, die Bärenkrallen aus Estorr, hatte sich am Aufmarsch beteiligt, der dem tsardonischen Feldzug im kommenden Genasauf vorausging. Sie sollten die Grenze sichern, für den Feldzug üben und in der kalten Jahreszeit des Dusas den Aufbau der Artillerie überwachen. Ringsumher sammelte sich das Heer bis zur Sollstärke von fast dreißigtausend Kämpfern.
General Gesteris hatte sie vor den Rebellen in dieser Region gewarnt, da der Bürgerkrieg in Atreska um sich griff. Die Legionen selbst waren kaum verwundbar, aber ihre Nachschubwege konnten empfindlich gestört werden. Als dann zwei Meilen entfernt der Rauch aufgestiegen war, hatte der General seinem Ärger Luft gemacht und ohne Zögern seine Entscheidungen getroffen.
»Das sind keine Bürger, die der Konkordanz treu ergeben sind«, erinnerte Nunan die vorrückenden Soldaten. »Es sind Verräter an Estorea und an Gott. Ihr Lächeln ist falsch, ihre Worte sind heimtückisch. Sie werden kuschen, sobald sie uns sehen, und es ist nur richtig, dass sie sich fürchten. Wir sind die Bärenkrallen, wir werden sie zerschmettern.«
Nunan hatte den breiten Eingang
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