Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
damit Harkov seinem Beispiel folgte. »Bewacht mich meinetwegen, wenn ihr wollt, aber ich muss jetzt mit ihr sprechen.«
Es gab nur eine kurze Verzögerung. Die Wächter betrachteten die kostbar geschmückten Schwertscheiden auf dem Boden und wandten sich wieder an den Schatzkanzler. Sie nahmen die Speere weg.
»Gute Entscheidung.«
Jhered riss die Doppeltür auf und stürmte in den stark duftenden, mit Wandbehängen geschmückten Raum. Auf das Bett, auf dem er zwei Gestalten entdeckte, fiel ein kleiner Lichtbalken. Seine auf dem Marmor hallenden Schritte ließen die beiden auffahren. Herine stieß einen überraschten Schrei aus.
»Keine Sorge, meine Advokatin, hier sind nur Jhered und Harkov.«
Jhered sagte nichts weiter, während er ans Bett trat. Die edlen Laken und die Decken im Grün der Konkordanz waren zerwühlt.
»Was fällt dir eigentlich ein, dass du hier einfach so hereinstürmst?«
»Ich versuche, deine Konkordanz zu retten«, sagte Jhered. »Vor denen, die deine Autorität untergraben, um ihre eigene perverse Ethik durchzusetzen.«
»Wie bitte?«, antwortete sie.
Jhereds Augen hatten sich auf das Zwielicht eingestellt. Herine saß aufrecht vor einem Stapel Kissen. Ihr Haar steckte unter einem Netz, und sie trug ein ärmelloses Nachthemd. Ihr Geliebter hatte sich auf die andere Seite des Betts zurückgezogen und versuchte, möglichst unauffällig zu wirken. Jhered zielte mit dem Finger auf ihn.
»Muss ich dir wirklich noch sagen, was du jetzt zu tun hast?«, knurrte er.
Der Gefährte, schlank und hervorragend in Form, sprang aus dem Bett wie eine aufgescheuchte Katze und rannte zur Tür. Unterwegs schnappte er sich ein Kissen, um sich zu bedecken.
»Eines Tages wirst du mal einen Schritt zu weit gehen«, sagte Herine. »Auch du stehst nicht über dem Gesetz der Konkordanz.«
»Im Gegensatz zur Kanzlerin?«
»Niemand außer mir steht darüber«, erwiderte Herine, die sich wieder ein wenig gefasst hatte.
»Dann musst du sie sofort verhaften lassen. Sie war diejenige, die D’Allinnius gefoltert hat. Persönlich.«
Herine schwieg einen Augenblick. »Dann ist er nicht tot?«
»Was? Nein«, erwiderte Jhered. »Auch wenn mir nicht klar ist, wie er es überlebt hat. Er hat sie jedenfalls identifiziert. Ich kann ihre Verhaftung nicht anordnen, das musst du tun.«
Herine rückte an die Bettkante und stand auf, nahm einen Schal von einem Stuhl und bedeckte sich ein wenig mehr. Dann schoss sie einen bösen Blick auf Harkov ab und ging zu einer ihrer Liegen, wo sie sich setzte und aus einem Krug etwas Wasser einschenkte.
»Dazu ist es zu spät«, sagte sie.
Jhered runzelte die Stirn. »Was meinst du damit? Ist sie bereits in Haft?«
»Nein, aber sie hat Estorr verlassen.«
Das traf Jhered wie ein kalter Guss. »Was? Wann denn?«
»Vor zwei Tagen, spät am Abend.«
»Ich bin verwirrt«, gab er zu. »Wir haben über unsere Vermutungen gesprochen, wer dieses Verbrechen an Orin begangen haben könnte, und du hast mir nicht gesagt, dass sie aufbricht, und hast sie auch nicht aufgehalten?«
Herine spreizte die Finger. »Es scheint mir, als werde in Gottes Namen Gerechtigkeit geübt.«
Jhered öffnete den Mund und schloss ihn sofort wieder, dann wandte er sich an Harkov. »Hauptmann, würdet Ihr bitte in meiner Schreibstube auf mich warten?«
»Mein Herr.« Der Offizier salutierte, indem er die Faust auf seine Brust schlug. Er verneigte sich vor Herine. »Meine Advokatin.«
Als er fort war, wandte Jhered sich voller Zorn an die Advokatin. »Gerechtigkeit? Bist du denn völlig von Sinnen?«
»Ich lasse nicht zu, dass du so mit mir …«
»Verdammt, du wirst mir jetzt zuhören, Herine. Bedeutet dir denn alles, was wir besprochen haben, nichts mehr? Die Kanzlerin wird nach Westfallen fahren, und die Gerechtigkeit, die sie üben wird, bedeutet nichts anderes, als dass die Stadt und alle, die in ihr leben, Unschuldige wie Mittäter, verbrannt werden.
Was ist aus deinem Wunsch geworden, in Estorr über sie zu richten? Die Gesetze der Konkordanz, die dir anscheinend lieb und teuer sind, verlangen, dass es so geschieht. Du darfst dies nicht der Kanzlerin überlassen.«
»Darf ich nicht?« Die Advokatin zog die Augenbrauen hoch. »Es gibt nichts, was ich nicht tun darf, Schatzkanzler Jhered. Warum sollte ich nicht entscheiden, dass dieser klare Fall von Ketzerei von der Kanzlerin des Ordens der Allwissenheit beurteilt wird?«
»Weil du weißt, wie gewalttätig ihr Richtspruch sein wird. Weil du
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