Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
du mich nicht sehen?«
Der Junge öffnet die Augen. »Ich kann dich sehen«, sagt er. »Aus deinem Haar kommen Sterne. Wenn ich die Augen zumache« – er schließt die Augen –, »kann ich fliegen. Ich kann die ganze Welt sehen.«
»Das ist wunderbar, wenn man die ganze Welt sehen kann«, sagt Señora Robles. »Kannst du meine Schwester sehen? Sie wohnt in Margueles, in der Nähe von Novilla. Sie heißt Rita und sieht aus wie ich, nur jünger und hübscher.«
Der Junge runzelt voller Konzentration die Stirn. »Ich kann sie nicht sehen«, sagt er schließlich. »Meine Hand brennt zu sehr.«
»Er hat sich gestern Nacht die Finger verbrannt«, erklärt er, Simón. »Ich wollte Sie um etwas Butter für die Verbrennung bitten, aber es war schon spät und ich wollte Sie nicht aufwecken.«
»Ich hole die Butter gleich. Haben Sie schon probiert, seine Augen mit Salz auszuwaschen?«
»Es ist die Blindheit, wie sie vom Sehen in die Sonne kommt. Salz hilft da nicht. Inés, sind wir abfahrbereit? Señora, was schulden wir Ihnen?«
»Fünf Reales für die Hütte und zwei für die Lebensmittel gestern Abend. Möchten Sie etwas Kaffee, ehe Sie aufbrechen?«
»Danke, aber wir haben keine Zeit.«
Er ergreift die Hand des Jungen, doch der reißt sich los. »Ich will nicht fort«, sagt er. »Ich will hierbleiben.«
»Wir können nicht bleiben. Du musst zu einem Arzt und Señora Robles muss die
cabaña
für die nächsten Besucher saubermachen.«
Der Junge verschränkt fest die Arme und will sich nicht von der Stelle rühren.
»Ich sag dir was«, meint Señora Robles. »Du fährst jetzt zum Arzt und auf dem Rückweg kannst du mit deinen Eltern wieder bei mir bleiben.«
»Es sind nicht meine Eltern und wir kommen nicht wieder. Wir sind unterwegs zum neuen Leben. Willst du mit uns zum neuen Leben kommen?«
»Ich? Ich glaube nicht, Schatz. Es ist freundlich von dir, mich einzuladen, aber es gibt hier für mich zu viel zu tun und außerdem wird mir im Auto schlecht. Wo wollt ihr denn das neue Leben finden?«
»In Estell … In Estrellita del Norte.«
Señora Robles schüttelt zweifelnd den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ihr in Estrellita viel von einem neuen Leben finden werdet. Freunde von mir sind dort hingezogen und sie sagen, es ist der langweiligste Ort auf der Welt.«
Inés schaltet sich ein. »Komm«, befiehlt sie dem Jungen. »Wenn du nicht kommst, werde ich dich tragen müssen. Ich zähle bis drei. Eins. Zwei. Drei.«
Ohne ein Wort steht der Junge auf, hebt den Saum seines Umhangs hoch, trottet den Weg zum Auto hinunter. Schmollend nimmt er seinen Platz auf dem Rücksitz ein. Der Hund springt ihm leichtfüßig nach.
»Hier ist die Butter«, sagt Señora Robles. »Schmier sie auf deine wunden Finger und wickle ein Taschentuch darum. Das Brennen wird bald verschwinden. Hier ist noch eine Sonnenbrille, die mein Mann nicht mehr benutzt. Setz sie auf, bis deine Augen sich erholen.«
Sie setzt dem Jungen die Brille auf. Sie ist viel zu groß, aber er nimmt sie nicht ab.
Sie winken zum Abschied und nehmen die Straße nach Norden.
»Du solltest den Leuten nicht erzählen, dass wir nicht deine Eltern sind«, bemerkt er. »Zunächst einmal, ist das nicht wahr. Und dann könnten sie glauben, wir würden dich entführen.«
»Ist mir egal. Ich mag Inés nicht. Ich mag dich nicht. Ich mag nur Brüder. Ich will Brüder haben.«
»Du hast heute schlechte Laune«, sagt Inés.
Der Junge ignoriert das. Durch die Sonnenbrille der Señora starrt er in die Sonne, die jetzt voll aufgegangen ist und über der blauen Gebirgssilhouette in der Ferne steht.
Ein Verkehrsschild taucht auf:
Estrellita del Norte 475 km, Nueva Esperanza 50 km
. Neben dem Schild steht ein Anhalter, ein junger Mann in einem olivgrünen Poncho mit einem Rucksack zu seinen Füßen, der sehr einsam in der leeren Landschaft wirkt. Er geht vom Gas.
»Was machst du?«, fragt Inés. »Wir haben keine Zeit, Fremde aufzulesen.«
»Wen aufzulesen?«, fragt der Junge.
Im Rückspiegel sieht er, wie der Anhalter auf das Auto zukommt. Schuldbewusst beschleunigt er und fährt weg von ihm.
»Wen aufzulesen?«, fragt der Junge. »Über wen sprecht ihr?«
»Nur über einen Mann, der mitgenommen werden will«, sagt Inés. »Wir haben keinen Platz im Auto. Und wir haben keine Zeit. Wir müssen dich zu einem Arzt bringen.«
»Nein! Wenn ihr nicht anhaltet, springe ich raus!« Und er öffnet die Tür auf seiner Seite.
Er, Simón, bremst scharf und macht den Motor aus.
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