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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Mauern. Andere, wie ich höre, finden Schätze. Wieder andere bringen frische Vorräte mit heim, und wieder andere kehren nie zurück. Keine der Damen ist Jungfrau, nehm’ ich an.«
    Dorcas sperrte den Mund auf. Ich nickte.
    »Das ist gut. Denn gerade die kommen, meist nicht wieder. Versucht, bei Tage durchzugehen, so daß ihr am Morgen die Sonne über der rechten Schulter und später im linken Auge habt. Wenn die Nacht anbricht, bleibt nicht stehen oder biegt seitlich ab. Seht zu, daß die Sterne des Ihuaivulu vor euch stehen, sobald sie sichtbar werden.«
    Ich nickte und wollte mich nach weiteren Einzelheiten erkundigen, als der Kranke die Augen aufschlug und sich aufsetzte. Seine Decke rutschte hinunter, und ich sah einen blutigen Verband auf seiner Brust. Er schreckte zurück, starrte mich an und rief etwas. Im nächsten Augenblick spürte ich die kalte Messerklinge des Hirten an meinem Hals. »Er tut dir nichts«, erklärte er dem Kranken. Er redete im gleichen Dialekt, aber weil er langsamer sprach, konnte ich ihn verstehen. »Ich glaub’ nicht, daß er weiß, wer du bist.«
    »Ich sage dir, Vater, das ist der neue Liktor von Thrax. Sie haben nach einem geschickt, und die Schließer sagen, er sei unterwegs. Töte ihn! Er wird alle umbringen, die nicht schon tot sind.«
    Ich war erstaunt, ihn von Thrax reden zu hören, das noch ein ganzes Stück entfernt war, und wollte ihn darüber befragen. Ich hätte wohl mit ihm und seinem Vater sprechen und eine Art Waffenstillstand schließen können, aber Dorcas schlug dem Greis mit der Gurde eine übers Ohr – ein nutzloser Angriff, von sanfter Frauenhand ausgeführt, der lediglich das Gefäß zerschellen ließ und ein wenig weh tat. Er stach mit seinem krummen, zweischneidigen Dolch auf sie ein, aber ich packte seinen Arm und brach ihn ihm; sodann brach ich unter meinem Stiefelabsatz auch das Messer entzwei. Sein Sohn Manahen versuchte aufzustehen; aber auch wenn die Klaue ihm das Leben wiedergegeben hatte, so hatte sie ihm zumindest keine Kraft verliehen, denn Dorcas konnte ihn wieder auf sein Lager zurückstoßen.
    »Wir werden verhungern«, klagte der Hirte. Sein braunes Gesicht war verzerrt, so beherrschen mußte er sich, nicht loszuschreien.
    »Du hast für deinen Sohn gesorgt«, erklärte ich ihm. »Bald wird er wieder gesund sein und für dich sorgen können. Was hat er sich denn getan?«
    Keiner von beiden wollte es sagen.
    Ich richtete den Bruch und schiente den Arm, und Dorcas und ich aßen und schliefen in dieser Nacht draußen, nachdem wir Vater und Sohn angedroht hatten, sie zu töten, sollten wir auch nur hören, daß die Tür sich öffne, oder sollte Jolenta ein Haar gekrümmt werden. Am Morgen, als alle noch schliefen, berührte ich den gebrochenen Arm des Hirten mit der Klaue. Nicht weit vom Haus entfernt war ein Renner angepflockt. Ich schwang mich auf seinen Rücken und konnte so einen zweiten für Dorcas und Jolenta erwischen. Als ich ihn zurückführte, fiel mir auf, daß die Sodenmauern über Nacht grün geworden waren.
     

 
XXX
 
Wieder der Dachs
     
    Entgegen der Auskunft des Hirten hoffte ich auf einen Ort wie Saltus, wo wir frisches Wasser und für ein paar Aes zu essen und ein Lager bekämen. Was wir statt dessen fanden, waren lediglich die Reste einer Siedlung. Dichtes Gras wucherte zwischen den dauerhaften Steinen, die einst ihr Pflaster waren, so daß sie sich aus der Ferne kaum von der umliegenden Pampa unterschied. Umgestürzte Säulen bedeckten den Boden wie Baumstämme in einem Wald, in dem der Sturm gewütet hatte; einige wenige standen noch, in der Sonne brüchig und so weiß geworden, daß es einem weh tat. Eidechsen mit glänzenden, schwarzen Augen und gezähntem Rücken ließen sich regungslos bescheinen. Die Bauten waren zu bloßen Hügeln geschrumpft, auf denen das Gras in der vom Wind herangetragenen Erde üppiger gedieh.
    Da ich keinen Grund sah, unsere Richtung zu ändern, zogen wir, unsere Renner antreibend, weiter nordwestwärts. Zum ersten Mal gewahrte ich vor uns die Berge. Von einem Ruinengewölbe umrahmt, offenbarten sie sich lediglich als zarte blaue Linie am Horizont; dennoch waren sie gegenwärtig, wie die irren Klienten im dritten Geschoß unserer Oubliette gegenwärtig waren, obwohl sie nie eine einzige Stufe heraufgeführt oder auch nur aus den Zellen gelassen wurden. Irgendwo in diesem Gebirge lag der See Diaturna. Und Thrax. Die Pelerinen wanderten, soweit ich das feststellen konnte, irgendwo zwischen

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