Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
obwohl ich hier sitze und mit euch scherze, hab’ ich selber einen Freund, der gerade drinnen liegt. Ihr fürchtet, eure Freundin könnte sterben. Ich weiß, daß der meine stirbt, und möchte, daß er ungestört bleibt.«
    »Das verstehen wir, aber wir werden ihn nicht stören. Vielleicht können wir ihm sogar helfen.«
    Der Hirte blickte von Dorcas zu mir und wieder zurück. »Ihr seid seltsame Leute – was soll ich sagen? Nicht mehr als einer dieser dummen Eklektiker. Dann kommt halt rein. Aber seid leise und vergeßt nicht, daß ihr meine Gäste seid.«
    Er stand auf und öffnete die Tür, die so niedrig war, daß ich mich beim Eintreten bücken mußte. Das Haus bestand aus einem einzigen Zimmer, das dunkel war und nach Rauch roch. Auf einer Pritsche vor dem Feuer lag ein viel jüngerer und, wie ich glaubte, viel größerer Mann als unser Gastgeber. Er hatte die gleiche braune Haut, die jedoch blutleer war; seine Wangen und Stirn sahen aus wie lehmbeschmiert. Es war kein zweites Bettzeug vorhanden, aber wir breiteten Dorcas’ zerlumpte Decke auf dem Fußboden aus und legten Jolenta darauf. Sie öffnete kurz die Augen. Sie waren ohne Leben, und das einst klare Grün war verbleicht wie ein Tuch in der Sonne.
    Der Hausherr schüttelte den Kopf und flüsterte: »Mit ihr wird es nicht länger als mit diesem dummen, eklektischen Manahen dauern. Vielleicht nicht einmal so lang.«
    »Sie braucht Wasser«, erklärte ihm Dorcas.
    »Hinten, im Trauffaß. Ich hol’s.«
    Als ich hörte, daß sich die Tür hinter ihm schloß, zog ich die Klaue hervor. Diesmal erstrahlte sie in solch grellem, zyanblauem Licht, daß ich fürchtete, es könnte durch die Wände dringen. Der junge Mann auf der Pritsche atmete tief durch und stieß die Luft mit einem Seufzer wieder aus. Sogleich steckte ich die Klaue wieder fort.
    »Ihr hat sie nicht geholfen«, stellte Dorcas fest.
    »Vielleicht wirkt das Wasser Wunder. Sie hat viel Blut verloren.«
    Dorcas beugte sich hinab und glättete Jolentas Frisur. Offenbar fielen ihr die Haare aus, wie es alte Frauen und schwer Fieberkranke oft erleben müssen; denn ein ganzes Büschel klebte an Dorcas feuchter Handfläche, was mir trotz des düsteren Lichts nicht entging. »Ich glaube, sie ist schon immer krank gewesen«, flüsterte Dorcas, »solange ich sie kenne. Dr. Talos hat ihr etwas dagegen gegeben, aber nun hat er sie fortgejagt – sie ist immer sehr fordernd gewesen, und nun hat er sich gerächt.«
    »Ich kann nicht glauben, daß er eine so schwere Rache beabsichtigt hat.«
    »Ich eigentlich auch nicht. Severian, hör zu; er und Baldanders werden gewiß Rast machen, um ihre Darbietungen zum besten zu geben und zu spionieren. Vielleicht könnten wir sie finden.«
    »Zu spionieren?« Mir war wohl anzusehen, wie verblüfft ich war.
    »Mir kam es wenigstens so vor, daß sie sowohl zum Geldverdienen als auch zum Auskundschaften die Welt bereisten, und einmal gab Dr. Talos es mir gegenüber indirekt zu, auch wenn ich nie herausfand, was sie aufspüren wollten.«
    Der Hirte kam mit einer Gurde Wasser wieder. Ich hob Jolentas Oberkörper in Sitzhaltung, während Dorcas das Gefäß an ihre Lippen führte. Das Wasser lief ihr über das zerlumpte Kleid, aber ein Teil auch in die Kehle; als die Gurde leer und der Hirte sie wieder gefüllt hatte, konnte sie schon schlucken. Ich fragte ihn, ob er wisse, wo der See Diaturna liege.
    »Ich bin ungebildet und dumm«, sagte er. »Ich bin noch nie so weit geritten. Ich habe gehört, in dieser Richtung«, wobei er sie anzeigte, »nördlich und westlich. Wollt ihr dorthin?«
    Ich nickte.
    »Dann müßt ihr durch einen schlimmen Ort. Durch viele schlimme Orte vielleicht, gewiß aber durch die steinerne Stadt.«
    »Es gibt hier in der Nähe also eine Stadt?«
    »Eine Stadt ja, aber ohne Menschen. Die dummen Eklektiker, die am Rande der Stadt leben, glauben, sie bewege sich und stelle sich einem, ganz gleich welchen Pfad man auch wähle, immer wieder in den Weg.« Nach einem kurzen Lachen seufzte der Hirte. »Das stimmt nicht. Aber die steinerne Stadt ist so gekrümmt, wie ein Reittier geht, so daß man sie vor sich sieht, während man meint, sie zu umrunden. Versteht ihr? Nicht ganz, glaub’ ich.«
    Mir fiel der Botanische Garten ein, und ich nickte. »Ich verstehe. Sprich weiter.«
    »Wenn ihr nach Norden und Westen wollt, müßt ihr die steinerne Stadt sowieso passieren. Sie muß gar nicht so gebogen sein, wie ihr geht. Manche finden dort nichts als verfallene

Weitere Kostenlose Bücher