Die Klingen der Rose: Jenseits des Horizonts (German Edition)
leicht einholen können, aber in ein paar Minuten war Morris tot, und er hatte genug Menschen sterben sehen, um zu wissen, dass man in diesem Moment nicht allein sein sollte.
Vielleicht würde er Morris im Jenseits begegnen. Huntley hob den Blick zu der Mauer hinter sich. Genau an der Stelle, wo sich zuvor sein Kopf befunden hatte, war die Wand von zwei Dutzend Einschusslöchern durchsiebt. Hätte Morris ihn nicht umgestoßen, würden diese Löcher jetzt seinen Schädel zieren, und sein Gehirn wäre über halb Southampton verteilt. Das wäre ihm nicht gut bekommen.
»Was zum Teufel war das?«, fragte er Morris. Huntley setzte sich vorsichtig auf, Morris lehnte sich an ihn. »Wespen anstelle von Kugeln? Aus einem strahlenden goldenen Nest?«
Morris hustete, wobei ein weiterer Schwall Blut durch seine Finger drang. »Kümmern Sie sich nicht darum. Ich muss Ihnen etwas sagen. Sie müssen für mich eine Nachricht übermitteln. Sie muss … persönlich überbracht werden.«
»Natürlich.« Huntley verdankte Morris sein Leben. Es war seine Pflicht, ihm gefällig zu sein. Dabei spielte es keine Rolle, dass Morris innerhalb der nächsten Minuten sterben würde. Das war ein ehernes Gesetz. Wenn die Welt zum Teufel ging, musste man die Ehre hochhalten. »Haben Sie einen Brief? Soll ich etwas aufschreiben?« In seinem Gepäck befanden sich ein paar Bücher, und er hätte bereitwillig ein paar Seiten für Morris’ Nachricht geopfert.
Morris schüttelte schwach den Kopf. »Ich darf nichts aufschreiben. Und selbst wenn, die Post würde es nicht ausliefern.«
Eine Nachricht, die man nicht aufschreiben durfte. Ein Ziel, das der weit vernetzte britische Postdienst nicht bediente. Die Sache wurde immer seltsamer. Huntley fragte sich langsam, ob er vielleicht irgendwo betrunken im Rinnstein lag. Vielleicht war das alles nur eine durch Whisky hervorgerufene Wahnvorstellung. »Wer ist der Empfänger?«
»Mein Freund Franklin Burgess.« Morris biss die Zähne zusammen, als ihn eine frische Schmerzwelle durchströmte. Huntley tat sein Bestes, um ihn zu beruhigen, und strich ein paar feuchte Haarsträhnen aus Morris’ Stirn. »In Urga. In der Äußeren Mongolei.«
»Das ist … ziemlich weit entfernt«, stieß Huntley hervor, nachdem er seine Stimme wiedergefunden hatte.
Ein geisterhaftes Lächeln spielte um Morris’ Lippen. »Auf jeden Fall. Ich war auf dem Weg zu einem Schiff, das mich dorthin bringen sollte, als … « Er deutete mit dem Kopf auf die schwere Wunde in seinem Bauch, und sein Lächeln erstarb. Mit der freien Hand griff er nach Huntleys Jackett. Es überraschte Huntley, dass Morris noch über so viel Kraft verfügte, doch Morris’ Aufregung wuchs. Huntley versuchte, ihn zu beruhigen, aber vergeblich. Morris drehte beinahe durch und verschwendete seine letzte Kraft darauf, Huntley näher zu sich heranzuziehen. »Bitte. Sie müssen Burgess diese Nachricht bringen. Tausende von Menschenleben stehen auf dem Spiel. Ach, mehr. Viel mehr.«
Huntley zögerte. In seiner Tasche steckte Inwoods Brief. Eine ruhige Zukunft lockte. Wenn er Morris’ Bitte nachkam, musste er seine Pläne, in Leeds sesshaft zu werden, verschieben. Doch ein Abenteuer in der Fremde schien Huntley unendlich viel attraktiver als Ruhe und Beständigkeit. Das konnte man allein daran erkennen, dass er sich, kaum zurück in England, in einen Kampf eingemischt hatte. Vermutlich war es nicht klug, aber das hatte Huntley noch nie interessiert. Und Morris hatte ihm das Leben gerettet, es war seine ultimative Pflicht. Er konnte es dem sterbenden Mann nicht verwehren.
»Geben Sie mir die Nachricht. Ich bringe sie ihm«, erklärte er.
Kurz schien Morris von Huntleys Zustimmung überrascht, dann zog er dessen Ohr zu seinem Mund herab. Huntley wusste nicht recht, was er erwartet hatte, doch ganz sicher nicht die beiden unsinnigen Sätze, die Morris mit schwacher Stimme in sein Ohr hauchte. Wie konnte das Leben von Tausenden von Menschen von etwas abhängen, das selbst ein Edward Lear nicht verstehen würde?
»Wiederholen Sie es«, drängte Morris. Sein Gesicht war wächsern und blass, seine Lippen zunehmend unbeweglich. Das Blut sickerte jetzt schwächer aus seiner Wunde. Die Quelle schien beinahe versiegt.
Huntley kam sich mehr als lächerlich vor, als er Morris’ Nachricht wiederholte – drei Mal auf Morris’ Drängen hin – , bis der sterbende Mann zufrieden war.
»Gut. Sie müssen fahren. Noch heute Nacht. Das nächste Schiff geht … in zwei
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