Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
Vom Netzwerk:
Namen der verlorenen Jungen, und wagten sich schließlich noch etwas weiter hinein. Dies ist ein Hinweis, dass sie möglicherweise ihre Brüder oder sogar ihre Söhne vermissten. Sie riefen die Namen und lauschten, riefen und lauschten, hörten aber nur, wie das Echo ihrer eigenen Stimmen diese Namen wiederholte.
    An den Feuern hieß es, es sei gut gewesen, dass Maronna darauf bestanden habe, einige kleine Jungen mit zurückzunehmen. »Sonst hätten wir gar keine Jungen, die werden wie wir, wenn sie erwachsen sind.« Nachdem es einmal ausgesprochen war, wurde es von allen weise wiederholt. »Überlegt doch! Angenommen, es würden keine Kinder geboren – was dann?«
    Horsa erklärte ihnen, dass es auf jeden Fall eine Zeit geben werde, in der nur wenige der Generation männlicher Wesen angehören würden, die jagten und alle verteidigten. »Die Zeit, in der wir darauf warten, dass unsere Jungen erwachsen werden, wird eine gefährliche sein.«
    Daraufhin wurden die verbleibenden Jungen, die nach ihrer Feuerprobe schwierig und nervös waren, noch sorgfältiger und aufmerksamer bewacht. Sie weigerten sich nach wie vor, tiefer in die neue Höhle hineinzugehen, die sehr viel weniger gefährlich war als andere Höhlen. Es war darin nicht gänzlich dunkel, und es gab zahlreiche Ausgänge, die nach oben in den Wald führten, wo Horsa unterwegs war. Durch Schächte fiel Sonnenlicht in die Höhle, und es roch eher nach Bäumen und frischem Wasser als nach Tieren. Unterhalb der großen Höhle gab es Tunnelsysteme und Löcher, in die sich jedoch niemand wagte. Doch allmählich wurde ein Spiel daraus, wie weit man durch die Kaverne gehen konnte, bis man auf ein Hindernis stieß. Manchmal traf man dort auf einen Haufen Steine, der von der Decke gefallen war, oder auf einen Schacht, der so tief war, dass man ihn vorsichtig umgehen musste. Alle kamen gut und ohne Gefahren voran, und noch angenehmer war es, dass sie jederzeit nach Horsa rufen konnten, der mit den kleinen Jungen über ihnen ging. Durch das verletzte Bein konnte er nicht so schnell laufen wie die Jungen, die sich gut erholten, doch die Gruppe auf dem Waldboden und die darunter in der Höhle machten oft gleichzeitig halt, um zusammen zu essen und nachzusehen, ob noch alle dabei waren.
    Inzwischen war jedem klar, dass das Land durchlöchert war wie ein altes Stück Holz, über das die Bohrwürmer hergefallen waren. Höhlen und Tunnel und Schächte und ganze Welten unterirdischer Flüsse und Seen. Wer hätte so etwas je vermutet, wenn sich die kleinen Jungen nicht hoch oben auf der Klippe über dem Strand häuslich eingerichtet hätten?
     
    Mir ist nicht wohl, wenn ich an die Tunnel und Höhlen denke, die die Oberfläche der Insel unterminierten – ein Irrgarten, ein Labyrinth, wie eine Wahrheit, die der bekannten Welt verborgen bleibt. Als ich jung war, habe ich nie an die Katakomben gedacht. Warum auch? Mit Tod und Tödlichem bekam ich erst Jahre später zu tun. Doch nun muss ich wie alle Römer an die Katakomben denken. Verbrecher und entlaufene Sklaven und Gefangene verstecken sich dort und mittlerweile auch die Christen, üble, gottlose Fanatiker, von denen es heißt, dass sie unser Rom in Brand gesetzt haben. Mein Haus ist von den Flammen nur verschont geblieben, weil sich der Wind rechtzeitig gedreht hat. Feuer, Verbrechen und die Verhöhnung unserer Gesetze und Götter umgeben mich jederzeit.
     
    Bald waren es nicht zwei Gruppen, sondern mehrere. Obwohl die große Kaverne endlos weiterzugehen schien und täglich allerhand Spannendes und Aufregendes bereithielt, mussten die jungen Männer ihrer irgendwann überdrüssig werden, also kamen einige nach oben, um mit Horsa und den kleinen Jungen weiterzuziehen, doch weil es ihnen dort bald zu langsam voranging, entfernten sie sich und stießen auf Strände, die sich von ihrem früheren Strand unterschieden. Die Art, wie die Sonne im Meer versank, erinnerte sie an die Küste der Frauen. Ob ihnen das etwas sagte? Ob ihnen bewusst war, dass sie geradewegs auf die Frauen zusteuerten? Falls
geradewegs
das richtige Wort ist, denn es gab zahlreiche Gruppen, die hier und da etwas entdeckten, sich entfernten und wieder zurückkehrten. Niemand allerdings wollte die Strände besuchen, die ganz in der Nähe zur Rechten lagen – vorausgesetzt, unsere Vorfahren waren schon übereingekommen, dass es rechts und links gab und dass sie diese Bezeichnungen benutzen wollten. Die Strände hatten nämlich ihre Anziehungskraft verloren.

Weitere Kostenlose Bücher