Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
Vom Netzwerk:
sie wieder öffnete, stützte Maeve ihn immer noch, und sein Blick war über das Meer auf eine leuchtende Linie mit einer dunklen Wolke darüber gerichtet, die ihm verriet, dass er sein anderes Land betrachtete. Von dort oben auf der Klippe gesehen erstreckte es sich ein ganzes Stück weit über den Horizont. Aber war es auch tief? Horsa gab sich Mühe, konnte aber nichts erkennen. Wie weit es wohl entfernt war? Fragte er sich das, oder maß er die Entfernung daran, wie lange er mit seinem Freund bis dorthin gebraucht hatte und wie schnell sie dann über die Wellen zurückgeglitten waren? Wenn er in die heiße Sommerluft gesprungen wäre, hätte er
seinen
Ort, der auf ihn wartete, mit zwei Schritten erreichen können. Als Maeve sah, wohin er starrte, folgte sie seinem Blick, sagte aber: »Horsa, es gefällt den anderen nicht, wenn du dorthin starrst. Was siehst du denn da? Dort bauen sich immer Wolken auf, das können wir alle sehen.« Da schien es Horsa, als hätte er ein Licht aus der »Wolke« fahren sehen. Einen Blitz? Was verursachte dieses Blitzen, das ihm wie ein Zeichen vorkam? »Hier bin ich, vergiss das nicht.«
    Von Maeves starkem Arm sanft gedrängt, stieg Horsa den Hang zum Strand hinunter. Er stolperte, fing sich aber wieder und hoffte, dass die anderen das Taumeln nicht gesehen hatten. Maeve stützte ihn geduldig, bis sie auf der Höhe des Strands angekommen waren und er sich auf einen Felsen setzte, um wieder zu Kräften zu kommen.
    Und als sie dann am Strand die Feuer für das Abendessen entzündeten, behielten sie den Pfad über den Klippen im Auge, um die Kinder zu sehen, falls sie sich dort blicken ließen. Sie wollten sehen, ob vor der Höhle ein Feuer brannte. Während sie Nacht für Nacht warteten, wurden sie immer bedrückter. Es wurde gemunkelt, dass die Kinder sich verirrt hatten. Und schließlich brachen, wie vorgeschlagen, einige Gruppen mit Seilen und Fackeln auf. Das war zur Mittagszeit, als das Licht am hellsten schien und ein wenig in die Höhlen dringen konnte, und anschließend berichteten sie, es gebe Labyrinthe, die gefährlich seien, und es sei leicht vorstellbar, dass Kinder dort von Flüssen mitgerissen werden oder in einen Abgrund fallen könnten. Sie riefen nach den Kindern, sie schrien in eine Höhle nach der anderen hinein und glaubten schließlich, die Hilfeschreie verirrter Kinder zu hören, auch wenn sie in jenem System von Höhlen und Kavernen schwer zu vernehmen waren, wo jede Stimme vielfach widerhallte – doch was sie hörten, waren vermutlich die Schreie von Seevögeln auf den Klippen oder sogar von Tieren, die in den Höhlen lebten. Es wurde ein weiterer Versuch unternommen, tiefer einzudringen, doch die Schwierigkeit war, dass es dort nicht nur eine Höhle oder ein System gab, sondern mehrere – also mussten sie annehmen, dass sich die Kinder tatsächlich verlaufen hatten. Horsa sagte, sie müssten abwarten, falls die Jungen wieder auftauchten, doch alle sprachen davon, weiterzuziehen und jenen Strand hinter sich zu lassen, der offenbar Unglück brachte.
    »Sind wir dir gleichgültig, Horsa?« Horsa hörte Maronnas Stimme in seinen Träumen, im Rauschen der Wellen und im Wind. »Sind wir dir gleichgültig?«
    Und dann wurden einige Jungen im Labyrinth gefunden – »einige«. Sie waren völlig abgemagert, was als Hinweis dienen mag. Gesunde kleine Jungen bestehen nicht von einem Tag auf den anderen nur noch aus Haut und Knochen. Sie hatten Angst, und ihr Blick war »starr«. Etwas Schreckliches hatte ihnen große Angst gemacht. Sie saßen in einem Loch, tief unten in einem Schacht. Die älteren Jungen hatten so weit eigentlich gar nicht gehen sollen, doch ihre Kumpane hatten sie verhöhnt: »Feiglinge!«, »Ihr habt ja Angst«, also waren sie doch weitergegangen. Wenn die unterirdischen Flüsse ihren Lauf geändert hätten, wie sie es bisweilen taten, hätten sie dort echte Skelette gefunden. Die kleinen Jungen konnten zunächst nichts essen, aßen dann aber sehr viel, und alle mussten an Ort und Stelle verweilen, bis die Jungen reisefähig waren. Sie weigerten sich, noch einmal in die Höhlen zu gehen. Wie Kinder es tun, schworen sie, dass sie lieber sterben würden als je wieder eine Höhle zu betreten. Was mit den anderen Kindern geschehen war, wussten sie nicht, oder sie hatten Angst, es zu sagen. Wer mit ihnen sprach, erfuhr Namen: »Brian« fiel in einen Fluss, »Großer Bär« fiel in einen Schacht; »Läufer« wurde von einer großen Schlange gefangen.

Weitere Kostenlose Bücher