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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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war den jungen Männern nicht recht, und sie wurden sogar ungeduldig. Was sollten sie denn tun? Horsa sah, dass sich die jungen Männer Sorgen machten, weil die Kinder nicht da waren, und dass es zu Diskussionen und Entscheidungen gekommen war, von denen er nichts mitbekommen hatte.
    Als Horsa stand, sagte er, man solle ihn hinauf zu der Höhle oder den Höhlen bringen, und da er offenbar eine gewisse Autorität wiedererlangt hatte, konnte er sich mithilfe seines Stocks und zweier junger Männer, die ihn an beiden Seiten stützten, die Klippe am Strand hinaufschleppen, bis er den Eingang einer Höhle sah, zu dem ein Pfad führte, den die kleinen Jungen offenbar benutzten – und zwar häufig.
    Dies ist endlich ein Hinweis darauf, wie viele Kinder es gewesen sein mögen. Um einen »häufig genutzten« Pfad auszutreten, braucht es mehr als, sagen wir, vier, sechs oder auch zehn – wobei es sich hier allerdings auch um ein Zeitmaß handeln kann. Jene Menschen lebten an ihrer neuen Küste schon viel länger, als sie annahmen. Und vor dem Zugang zur Höhle befand sich ein Platz, auf dem Büsche und Gras weggehackt worden waren. Von dort konnten die Jungen den Strand sehen, wo die Älteren Feuer aufschichteten und ihre Mahlzeiten einnahmen, zu denen sie mit ihrer Jagdbeute auch hätten beitragen sollen. Wie leicht es war, sich das alberne Gekicher und den Spott der Kinder vorzustellen, die jeder Überwachung entkommen waren.
    Die Höhle selbst war hoch und geräumig und ging auf allen Seiten in dunkle Winkel über, die verständlicherweise niemand gern betreten wollte, ob Kind oder Erwachsener. Die Haupthöhle hatte glatte Wände, und Tiere hatten sie bewohnt – oder bewohnten sie noch immer. Auf niedrigen Felsen lagen die Habseligkeiten der kleinen Jungen: Tierhäute, Lendenschurze aus Fischhaut, eine große Muschel mit Wasser und etwas übrig gebliebenes Fleisch. Es roch nicht besonders gut. Aber wo waren die Kinder? Nichts war von ihnen zu sehen. Die Erwachsenen riefen nach ihnen, schrien, stießen Drohungen und sogar Befehle aus, doch es folgte nur Stille. Entweder waren die Kinder auf die Jagd gegangen, oder sie hatten sich tief in die Höhle zurückgezogen und warteten, bis die Störenfriede wieder verschwunden waren. Als Horsa den älteren Jungen vorschlug, ein Stückchen in den hinteren Teil der Höhle hineinzugehen, sah er, dass sie sich nur widerwillig dazu bereit erklärten: Der große Tunnel im Hintergrund der Höhle gabelte sich beinahe sofort. Offenbar waren einige schon einmal tiefer in die Höhle eingedrungen und hatten dort einen Irrgarten aus weiteren Höhlen vorgefunden. Horsa konnte sehen, dass die jungen Männer verlegen waren, sich sogar schämten. Ja, während Horsa schwach und nicht ganz bei sich gewesen war, hätten sie die kleinen Jungen, wenn man sie denn so nennen konnte, im Auge behalten sollen.
    Horsa schlug vor, dass ein paar der Älteren am Abend zur Höhle hinaufklettern sollten, um nachzusehen, ob die Kinder zurückgekommen waren. Ja, rief einer, aber er werde nicht weit in diese oder in eine andere Höhle hineingehen: Dort seien Tiere, man könne sie hören. Daraufhin sagte ein anderer, er wolle den Kindern wirklich nicht gern allein im Dunkeln begegnen. Horsa stand noch immer zitternd vor Schwäche da, hielt sich an seinem Stock fest und hörte sich an, was sie zu sagen hatten. Es gebe Höhlensysteme mit Tunneln dazwischen und tiefe, unterirdische Flüsse und sogar Seen. Wenn man den Versuch unternehmen wolle, die Kinder wiederzufinden, müsse das am Tag geschehen, und man brauche mindestens zwei Suchtrupps mit Fackeln und die stärksten Seile, die im Wald herzustellen seien. Wenn eine Gruppe verloren gehe, könne die andere sie retten. Horsa sagte: »Wir können die Kinder nicht einfach im Stich lassen, wenn sie sich irgendwo verlaufen haben.« Weil er wusste, dass das keineswegs überzeugend klang, fügte er hinzu: »Wir vergessen, dass sie schließlich noch Kinder sind« – und sah, wie sich die Blicke der Gefährten nachdenklich, überrascht und sogar ungläubig auf ihn richteten. »Kinder« nannte er diese gefährlichen Jungen?
    Horsa wartete ab, bis alle jungen Männer die Höhle verlassen hatten, packte dann seinen Stock und stolperte ihnen nach. Diesmal kam Maeve von selbst, um ihm zu helfen. Draußen auf der Plattform mit den heruntergebrannten Überresten abendlicher Feuer hielt sich Horsa an einem jungen Baumstamm fest und schloss die Augen, um sich zu erholen. Als er

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