Die Kluft: Roman (German Edition)

für Ungewöhnliches, Entlegenes interessiere. Im Zusammenhang mit diesem Buch heiße ich »Transit«. Wie mein richtiger Name lautet, soll im Dunkeln bleiben. Jenes Paket oder Päckchen mit den Schriftrollen, auf denen die Geschichte der Spalten und der Ungeheuer aufgezeichnet ist, hat lange Zeit in den hintersten Winkeln der Bibliotheken gelegen oder auf den Regalen von Gelehrten vor sich hin geschmort. Ziemlich viele Leute haben die Geschichte gelesen, und keiner ist ungerührt geblieben. Es wurden Kopien für diejenigen angefertigt, die alles als Pornografie begreifen.
    Eine schändliche, auf uralten Tonscherben bewahrte Historie ist keineswegs die einzige gefährliche Art von Wissen, die unter Verschluss gehalten wird.
    Hier ist nun eine Erklärung angebracht. Dass man Dinge unter Verschluss hielt und glättete und »die Wahrheit verschwieg«, dazu kam es erst, als man sich darauf verständigt hatte, dass alle Feindseligkeit beendet und dass wir eins waren – eine »Gruppe« oder ein »Volk«. Weil es in unserem historischen Gedächtnis so viel Unseliges gab, das die
Offiziellen Gedächtnisse
zum Großteil bewahrten, »kam man überein« – diese Formulierung zeigt immer, dass Uneinigkeiten ausgeräumt worden sind –, von dem aufrührerischen Material so viel wie möglich an einen sicheren Ort zu bringen, zu dem niemand außer den vertrauenswürdigen Hütern Zugang haben sollte.
    Und zu diesen gehöre – oder gehörte – ich. Nun folgt der nächste Teil der Erklärung. Was versetzt mich in den Stand, von diesem Material zu erzählen? Die Tatsache, dass ich es lange Zeit bewahrt, bewacht und behütet habe.
    Ich lege somit meine Referenzen vor, gleich zu Beginn meiner Geschichte. Was ich berichten will, ist möglicherweise – oder mit Sicherheit – spekulativ, beruht aber auf soliden Fakten. An den Anfang habe ich Fragmente dessen gestellt, was unter Verschluss gehalten worden ist, um einen Eindruck von dem Material zu vermitteln, mit dem ich zu arbeiten hatte. Man könnte sagen, dass die Schilderung uneinheitlich ist. Aber wir reden hier über Ereignisse, die so lange zurückliegen, dass niemand kann sagen, wie lange. Ein Aspekt ist hier interessant: Es handelt sich um Aufzeichnungen von einer Befragung eines weiblichen Wesens, einer Spalte, durch einen von uns – das heißt, durch ein männliches Wesen (oder Ungeheuer, um einen noch immer kursierenden Scherz zu bemühen). Das allein lässt einen schon innehalten und staunen. Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass sich der Frager in einer Machtposition befindet, weshalb sich das Ereignis spät in unserer langen Geschichte ansiedeln lässt. Doch bewahrt wurde es nach der Methode, die die weiblichen Wesen benutzten, durch das Auswendiglernen der Historie, einer Schilderung, die in der Erinnerung eines
Gedächtnisses
bewahrt und an die nachfolgenden Generationen von
Gedächtnissen
weitergegeben wurde. Also reden wir in der Tat über etwas, das sich sehr früh zugetragen hat, wenn wir den später bewahrten, aber noch immer sehr frühen Bericht betrachten, der wenig mit dem gemein hat, was unseren Kindern als Wahrheit vermittelt wird. Hier heißt es nämlich, dass wir männlichen Wesen zuerst da waren und auf irgendeine bemerkenswerte Weise die weiblichen Wesen hervorgebracht haben.
Wir
waren zuerst da, und
sie
sind unsere Schöpfung. Wirklich interessant, wenn man die Anatomie betrachtet, die männliche und die weibliche. Wie wird in unserer offiziellen Geschichte erklärt, dass männliche Wesen keinerlei Vorrichtung zum Gebären und Nähren haben? Es wird gar nicht erklärt. Wir besitzen hübsche, diffuse Fabeln, die zur gleichen Zeit aufkamen, in der man alles unter Verschluss nahm – und leider oft zerstörte.
    Doch was in den Köpfen der Menschen bewahrt ist, kann man nicht zerstören. Die Methode der weiblichen Wesen zur Bewahrung der Historie ist sehr effizient: Man wiederholt alles sorgfältig Wort für Wort und reicht es dann an die nächste Generation weiter, wobei jedes Wort durch eine Methode paralleler Gedächtnis-Linien abgeglichen und geprüft wird. Sie ist effizient, solange man abgleicht und prüft. Es ist erstaunlich, wie viel Material in unseren Gefängnissen lagert – wie ich sie scherzhaft nenne. Ja, die ist leider ein Scherz, den wir als offizielle Wärter der verbotenen Wahrheit machen. Und diese entstammt fast vollständig den weiblichen
Gedächtnissen
, aber auch den unsrigen, nachdem wir begonnen hatten, dieselbe