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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Sammeln niedergeschrieben.
    Sie lagen auf Felsen, von Wellen umspült, wie Robben, wie kranke Robben, sie sind nämlich blass, und Robben sind meistens schwarz. Zuerst haben wir sie für Robben gehalten. Singende Robben? Nie zuvor hatten wir Robben singen gehört, auch wenn manche behaupten, sie hätten sie gehört. Dann wussten wir, dass es die Spalten waren. Wir Jungen waren zu dritt. Wir wussten, dass wir die Spalten hassten, auch wenn wir uns an die Frühzeit gar nicht erinnern konnten, in der wir auf dem Todesfelsen ausgesetzt oder von Adlern über den Berg getragen worden waren. Was wir da sahen, war einfach überraschend, ganz gleich, was man uns erzählt hatte. Mehr noch, es ekelte uns an. Diese großen blassen Dinger, die sich in den Wellen aalten, mit diesen ekelhaften Spalten, die wir zum ersten Mal sahen, und während wir hinsahen, kam aus der Spalte eines dieser sich träge lümmelnden Wesen etwas Kleines, Blutiges heraus. Wir sahen, dass es eine winzige Spalte war. Erst später überlegten wir, dass es ebenso gut ein Zapfen gewesen sein konnte – einer von uns. Wir rannten davon, vorbei an der großen Kluft, der Felsspalte in den Klippen, mit den rötlichen Flecken und dem samtigen Bewuchs. Wir rannten und mussten uns übergeben und liefen über den Berg zurück dorthin, wo wir wohnten.
    Das Obige ist die früheste erhaltene Schilderung des Eindrucks, den wir »Ungeheuer« von den »Spalten« hatten. Es lässt sich nicht beweisen, aber ich würde sagen, es handelt sich um eine Erinnerung an etwas, das für den Sprecher lange zurücklag. Es klingt irgendwie geglättet und oft wiederholt, wie jeder Bericht aus ferner Vergangenheit. Er ähnelt nicht im Geringsten jenem drastischen, wütenden Fragment (das ich wegen seiner genüsslichen, rachsüchtigen Grausamkeit nicht wiedergegeben habe), in dem wir zum allerersten Mal von den Spalten hören.
     
    Es ist nicht einfach, aus diesem Material die Vorgeschichte zu rekonstruieren. Zur Rechtfertigung muss ich sagen, dass es bei den
Gedächtnissen
der Spalten und der Ungeheuer kaum größere Unterschiede gibt. Weil sie sich oft im Ton unterscheiden, nahm man früher an, dass sie von unterschiedlichen Ereignissen berichteten. Doch im Großen und Ganzen haben Spalten und Ungeheuer (oder Zapfen) dieselbe Geschichte erlebt. Nun setze ich mit meinem Bericht neu an.
     
    Sie wohnten an der Küste eines warmen Meeres auf einer Insel, die recht groß war, entfernten sich jedoch nie weit von dem heimatlichen Küstenstreifen. Sie entstammten dem Meer, waren Geschöpfe des Meeres, aßen Fisch und Seetang und Früchte, die an der Küste wuchsen. Sie nutzten geräumige Höhlen mit sandigem Boden, konnten aber ebenso gut im Freien auf den Felsen schlafen wie im Schutz dieser Höhlen. Wie lange hatten sie dort schon gelebt? Damit wären wir sogleich bei einer der schwierigsten Fragen – die in der Tat das Hauptproblem des Historikers ist. Die Spalten wussten nicht, wann ihresgleichen erstmalig aus den Wellen gekrochen waren, um auf den Felsen Luft zu atmen, und es war ihnen gleichgültig. Sie kamen nicht auf die Idee, zu überlegen oder Fragen zu stellen. Auf die – sehr viel später gestellte – Frage »Wie alt seid ihr als Volk?« antworteten sie mit der nichtssagenden, richtungslosen Gegenfrage: »Wie meint ihr das?« Ihr Geist war auf Fragen nicht eingerichtet, nicht einmal auf leises Interesse. Sie glaubten, ein Fisch hätte sie vom Mond geholt – ohne dass sie diesen Glauben je angefochten oder verteidigt hätten. Wann das gewesen sei? Lange, träge, verwirrte Blicke. Sie seien aus den Eiern des Monds geschlüpft. Der Mond lege Eier ins Meer und verliere so einen Teil seiner selbst, und deswegen sei er manchmal groß und strahlend und manchmal blass und dünn. Was ihre eigene Fähigkeit zum Gebären anging, so hatten sie diese nie infrage gestellt. Es war einfach immer so gewesen. Nichts veränderte sich, konnte sich verändern, würde sich verändern – doch das war eher ein Gefühl und im Grunde nichts, worüber sie sich ausführlich äußern konnten oder wollten oder das sie auch nur erwähnten. Sie lebten in ewiger Gegenwart.
Für wie lange?
Sinnlos, danach zu fragen. Als das erste »Ungeheuer« geboren wurde, sah man in ihm nur ein missgebildetes Kind, wie sie eben hin und wieder zur Welt kamen, doch dann kam noch ein »Ungeheuer«, das genauso abscheulich und beunruhigend aussah. Man setzte die Kinder auf dem Todesfelsen aus, statt sie an die Fische zu

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