Die Kluft: Roman (German Edition)
pulverisierten Knochen vieler Generationen bildeten eine dicke Schicht, von der weißer Staub aufstieg, wenn der Wind darüber wehte. Und als die Jungen in der Ferne die Frauen sahen, stimmten sie ein Geheul an, denn sie fürchteten sich vor den weißen Gespenstern, die dort klagten und weinten.
Die jungen Männer, die Horsa vorausgeeilt waren, blieben nun aus Angst vor den Frauen zurück. Sie scharten sich dicht zusammen, um sich zu schützen. Die Frauen sahen aus, als würden sie rauchen, denn die Meeresbrise verwehte das weiße Pulver, von dem sie überzogen waren. Die Kluft, die die gesamte Landschaft beherrscht hatte, war nur noch halb so groß, und noch mehr weißer Staub rieselte in kleinen weißen Lawinen an ihr herab. Das Meer war von einer weißen Kruste überzogen, die von den Wellen angehoben und in Falten an den Strand gedrückt worden war. Das Weiße sah fest aus, als könnte man darauf laufen. Als einige Frauen versuchten, das weiße Pulver am Ufer abzuwaschen, merkten sie, dass die Kruste nur noch dicker wurde, und schreiend vor Grauen und Zorn versuchten sie, sie abzuschrubben. Etwas weiter draußen war das Meer allerdings klar.
Als Maronna Horsa sah, erkannte sie den Hinkenden nicht sofort, doch dann ging sie auf ihn los und schrie: »Warum habt ihr das getan? Die Kluft! Ihr habt die Kluft vernichtet! Warum?« Sie wusste, dass die Männer dafür verantwortlich waren, und das wiederum bedeutete, dass Horsa verantwortlich war. Ihre Anschuldigungen klangen hysterisch, und die hässlichen Schreie verzerrten ihr weiß gestreiftes Gesicht.
»Das ist unser Platz, ihr habt unseren Platz zerstört.«
»Aber Maronna, es gibt bessere Plätze. Das sage ich dir die ganze Zeit. Es gibt einen viel besseren Platz, ein kleines Stück weiter weg. Wir sind gerade daran vorbeigekommen.«
»Wir waren immer hier, immer. Wir sind hier geboren. Du bist hier geboren. Da oben in dieser Höhle bist du geboren.« Nun, da ihr Zorn nachließ, fing sie herzzerreißend an zu schluchzen, und er hielt sie kraftlos in den Armen und dachte, dass er weibliche Wesen nie verstehen würde. Warum war Maronna oder irgendeine vorherige Maronna nicht schon längst fortgezogen? Dieser Küstenstrich war schon immer zu eng und überfüllt gewesen. Und wenn sie nur ein kleines Stück weiter weg gezogen wären … gut, dass die Kluft explodiert war, wenn das dazu führte, dass die Frauen endlich einen vernünftigen Strand bewohnen würden.
»Komm schon, Maronna, du kannst hier nicht bleiben«, sagte er und rief die jungen Männer herbei, wobei er auf den Küstenstrich zeigte, der hinter ihnen lag. Sie verstanden ihn, denn es war viele Male darüber gesprochen worden, wie töricht die Frauen waren, weil sie nicht an einen geräumigen Strand zogen.
Mit Maronna im Arm führte Horsa die, wie wir annehmen müssen, ziemlich große Gruppe fruchtbarer Frauen an, die bald wieder Mütter werden sollten, und hinter ihnen gingen die aus der Höhle geretteten kleinen Jungen, die sich so dicht wie möglich an Maronna hielten: Weil sie so viele Monate lang nur mit Männern zusammen gewesen waren, hatten sie nicht mehr gewusst, dass Frauen Trost bedeuteten, Wärme, Freundlichkeit. Hinter ihnen kamen jene drei Mädchen, die aus dem Wald zur Küste der Frauen geeilt waren. Sie hatten Maronna nichts von den schlimmen Dingen erzählt, zu denen es unterwegs gekommen war. Alle Frauen weinten und blickten auf ihre entweihte Küste zurück. Doch dann wandten sie sich nicht mehr um, denn irgendwann war das Meer nicht länger weiß, sondern blau mit einem weißen Film darüber, und schließlich sah es aus wie immer und hatte die übliche Farbe. Sie hatten die Welt der pulverisierten Knochen hinter sich gelassen. Alle Frauen sprangen gleichzeitig ins Meer, das ihr Element, ihre Mutter war – zumindest glaubten das einige –, und stiegen danach glitzernd wie gesunde Robben wieder heraus. Und hier erhalten wir einen weiteren kleinen Hinweis auf ihr Aussehen. »Sie standen da und wrangen ihr langes Haar aus.« Die männlichen Wesen sahen ihnen dabei zu, bis bald darauf die lang erwartete Vereinigung begann. Maronna und Horsa gingen voraus, den Strand entlang. Wie lange? Wie weit? »Eine gewisse Entfernung«, mehr wissen wir nicht. »Ein bequemer Spaziergang für gesunde Frauen.«
Horsa zog Maronna mit sich, bis sie gemeinsam auf Felsen standen, die denen sehr ähnlich waren, die sie hinter sich gelassen hatten – für immer. Es gab Felsen und kleine Tümpel und
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