Die Knochen der Goetter
Hausschreine. Die neuen Formen, die Euer Vater angeordnet hat, erschrecken sie. Das Volk will das Gewohnte. Es will zurück zu dem, was es kennt, und zu den Anblicken, denen sie vertrauen. Und damit auch zurück zu den alten Göttern und ihren Priestern.«
Die Pharaonin schüttelte den Kopf. »Du sprichst kühne Worte, Priester. Aber spielt sich der Wolf nicht gern als Löwe auf, wenn der Löwe weit weg ist?!«
Mahu zuckte die Schultern. »Vielleicht«, antwortete er. »Aber keinem nutzt ein Glück, das zu so später Abendstunde kommt, dass man es im Finstern gar nicht mehr sehen kann.«
Anchetcheprure richtete sich auf ihrem Thron auf. »Mahu! Erinnert Euch, so sagte es schon mein Vater, und so denke ich ebenfalls: Die Welt schreitet voran. Die neuen Künste sind wahrere Künste, die mein Vater in die Welt brachte. Sie sind die Träger neuer Gedanken und wahrer Schönheit, die nicht nur von den Priestern bestimmt wird. Und diesen Gedanken freier Schönheit wollt ihr für das Gewohnte zurücklassen?!«
»Ja«, sagte Mahu. »Denn dafür wird Euer Volk zu essen haben. Und was hilft dem Volk ein freier Geist, wenn es kein Brot und kein Bier gibt! Die alten Götter geben Arbeit und Speisen, und sie geben das Maat. Ihr wisst, Göttin, dass es so ist. Man munkelt schon lange, dass diese Stadt, Achet-Aton, nicht bestehen wird. Man munkelt auch über Euch. Und wenn Ihr Euch auf die Überfahrt zur Reise in das nächste Reich begebt, spätestens dann wird es kommen, wie ich voraussage. Euer Reich hier wird fallen, wenn Ihr nicht für das Maat sorgt und die alten Götter zurückruft.«
Es war, als hätte der Priester der Pharaonin einen Dolch ins Herz gestoßen. Plötzlich schwankte sie auf dem Thron.
»Mahu, Ihr wisst und ich weiß, dass Ihr es sein werdet, der sich um mein Grab zu kümmern hat«, sagte Anchetcheprure leise. »Und Ihr werdet es sein, der die Geschicke des Landes und das Maat wesentlich mitbestimmt. Ihr seid jünger als ich, Ihr habt schon als sehr junger Mann meinem Vater gedient, und ich weiß, dass Ihr mich auf der Erde überleben werdet. Aber ich will, dass mich auf meiner letzten Reise die neuen Formen der Kunst begleiten. Mein Vater hat Aton zum Gott Ägyptens bestimmt. Und ich werde an diesem Glauben festhalten, denn ich bin von ihm überzeugt.« Die Pharaonin ließ ihren Blick über Mahu und den Berg Gold in der Ecke gleiten, auf dem die Anubismaske lag.
»Stimmt es, dass Euer Nubier die schönsten aller Katzen macht?«
»Ja«, antwortete Mahu lächelnd.
Die Königin schwieg. Dann sagte sie: »Mahu, ich werde heute Nacht mit Euch zu dem Nubier gehen. Und ich befehle Euch, dass dieser Nubier mir eine Skulptur macht, die ich mitnehmen werde auf meiner letzten Reise.«
»Ihr wollt in die Arbeiterstadt? Eine Königin sollte den Sitten folgen«, sagte Mahu mahnend.
»Eine Göttin folgt ihrem Geist«, gab Anchetcheprure zurück. »Euer Nubier hat Euch die geheimen Werke gemacht, die Ihr von ihm wolltet. Nun wird er mir die Werke machen, die ich von ihm will. Ihr werdet dafür sorgen, dass dies geschieht und dass dieses Kunstwerk mich begleitet, wenn ich meine Reise antrete.«
Filine starrte die Pharaonin an.
Anchetcheprure musste dieses Gespräch von Beginn an so geplant haben. Sie hatte gewusst, was Mahu hinter ihrem Rücken tat. Und sie hatte gewusst, dass die Neuerungen, die ihr Vater Echnaton in Ägypten eingeführt hatte, nicht von Dauer sein konnten.
Die Pharaonin hatte all dies gewusst, und was sie wirklich von dem Priester gewollt hatte, war, dass er sich darum kümmerte, ihr eigenes Königinnengrab so auszustatten, wie sie es sich für das jenseitige Leben wünschte. Mit den Dingen und Formen, an die sie glaubte.
Filine spürte, wie dieser Gedanke sie gleichzeitig mit Trauer und Glück erfüllte. Ihre 94. Urgroßmutter war eine starke und kluge Frau gewesen, die ihre Lage sehr genau erkannt und beurteilt hatte. Dann hatte sie getan, was sie für richtig entschieden hatte. Und dies war eine sehr einsame Entscheidung gewesen. Darum sprach kein Geschichtsbuch von ihr. Darum kannte niemand ihre Grabstätte. Nach ihr waren die alten Priester und Generäle an die Macht zurückgekehrt und hatten den jungen Pharao Tutanchamun die Taten von Echnaton und seiner Tochter Anchetcheprure aus allen Schriftrollen löschen lassen. Sie hatten die Stadt Amarna, oder Achet-Aton, wie Echnaton sie genannt hatte, dem Erdboden gleichgemacht und waren in die alte Hauptstadt Theben zurückgekehrt.
Sie hatten
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