Die Kornmuhme (German Edition)
näherte. Sofort bemerkte sie etwas Merkwürdiges an seiner
Haltung. Er ritt aufrecht sitzend direkt auf sie zu, und trotzdem wippte sein
Kopf seltsame schlaff hin und her. Als er näher kam, erkannte sie, dass es der
Kaufmann Gerolf war, und ein leiser Schrei entfuhr ihr, als sie den Blick
seiner toten Augen sah. Sie ließ den Eimer fallen und stolperte hastig über die
Wiese zurück zum Haus. Der Rappe trabte jedoch mit ebenfalls leerem Blick
weiterhin auf sie zu, und als sie mit dem Rücken gegen den Türpfeiler ihrer
Hütte stieß, blieb das Tier nur wenige Schritte von ihr entfernt abrupt stehen.
Sie konnte sich diesem schrecklichen Bild nun nicht mehr entziehen und starrte
auf den grotesk aufrecht im Sattel sitzenden Gerolf, der mit seinen weit
aufgerissenen Augen und seiner steifen Haltung aussah, als wäre er eine
grauenvoll entstellte Puppe. Noch einen Moment lang hielt er sich schwankend
aufrecht. Dann fiel er seitlich vom Pferd und schlug mit einem dumpfen Geräusch
auf den gefrorenen Boden.
Gryla hatte den Toten ins Dorf
reiten lassen, doch nun brach der Bann, der auch das Herz des Tieres gefesselt
hatte und es schlug wiehernd und schreiend vor Angst in alle Richtungen aus.
Und auch Lioba schrie nun, stürzte ins Haus und schlug die Türe heftig hinter
sich zu.
Reinulf, der sofort aus dem Schlaf
gerissen auf die Beine sprang, ergriff unwillkürlich sein Schwert. Lioba fiel
in seine Arme und schluchzte herzzerreißend. Es dauerte ein wenig, bis er ihr
wirres Gestammel durch das Geschrei des Pferdes vor der Türe hindurch verstand.
Ranja, seine Älteste, lief zur Türe und wollte sie öffnen, doch er ergriff sie
am Arm und riss sie zurück. >> Bist du des Wahnsinns! <<, schrie er
das Kind an. >> Du gehst sofort zu deinem Bruder! << Er stieß sie
wieder in Richtung des Lagers, auf dem der kleine David wie angewurzelt dasaß.
Reinulf lief nervös vor der Türe auf und ab. Das Pferd polterte gegen die
dünnen Wände, so dass der Lehmputz herausfiel, und man hörte es wild
umhergaloppieren. Er wusste nicht, ob es die beste Idee war, nun nach draußen
zu gehen. Und ebenso war er nicht erpicht darauf, Gerolfs Leiche zu erblicken.
Man sagte, diejenigen, die die Gryla gesehen hätten, wären allein von ihrem
Anblick grausig entstellt. Und was war, wenn die Hex‘ noch da draußen war!
Vielleicht war sie ebenfalls ins Dorf gekommen.
Er dachte an die alte Mara, Liobas
Tante, die am Waldrand lebte. Bisher hatte niemand die Gryla gesehen und dies
überlebt. Nur Mara hatte sie einmal gesehen. Sie war nicht gestorben, aber sie
war seitdem etwas wunderlich geworden. Sie redete manchmal mit sich selbst,
murmelte etwas in sich hinein. Es mochte aber auch die Abgeschiedenheit ihres
Hofes und die ständige Einsamkeit gewesen sein, die sie so verändert hatte, das
konnte Reinulf nicht genau sagen. Denn seit die Gryla so nah an Maras Haus
aufgetaucht war, hatten alle Angst, die Greisin am Waldrand zu besuchen. Damals
hatte sie von einer schwarzen Gestalt erzählt, die auf einem dürren Ast
geritten kam.
Auch ein Kaufmann hatte vor ein
paar Jahren ´ mal von einer Frau erzählt, die er in weiter Ferne hat
vorüberziehen sehen, und deren Schritte Gras und Waldboden versengen ließen.
Und tatsächlich hatte Reinulf bei der Jagd im Wald schon öfter solche Spuren
entdeckt und einen Geruch von Feuer und verkohltem Fleisch wahrgenommen. Nicht
selten waren kleinere Tiere im Umfeld der verbrannten Fußspuren elendig
verreckt. Reinulf war den Fußspuren nie gefolgt. Sein Respekt hatte ihn immer
davor bewahrt, der Hexe zu nahe zu kommen und zu tief in den Wald zu reiten.
Andere waren jedoch nicht so schlau gewesen. Manchmal verschwanden Kaufleute,
da sie nach dem Getratsche in der Schenke und mit betrunkenem Kopf allzu
übermütig und laut johlend nach der Alten im Walde gesucht hatten.
Gryla war ein Plagegeist. In der
Nacht fiel sie Schafe und Schweine an, zerfetzte ihre Kehlen, trank ihr Blut
und fraß ihre Eingeweide. Wenn man sie in Ruhe ließ, so beließ sie es dabei.
Rache zu üben, wäre töricht gewesen. Vor Räubern und Dieben beschützte sie die
Urmitzer - jedoch nur, um die Früchte ihrer Arbeit selbst zu ernten. Seit
endloser Zeit war das Dorf in ihrer Hand. Reinulf versuchte, sich zu entsinnen
seit wann. Was hatten die Alten noch erzählt …? Er konnte sich nicht erinnern.
Niemand hatte je aufbegehrt, bis
eines Tages drei Brüder mutig ausgezogen waren, um ihr und ihrem Treiben
endlich den Garaus zu machen. Es
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