Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
daß Don Juan vielleicht gar nicht einen Schlaganfall hatte, sondern einen organischen Hirnschaden, der seinen Verstand benebelte und ihn gewalttätig machte.
Plötzlich stand er auf und ging fort. Es war unübersehbar, wie gebrechlich er wirkte. Binnen Stunden war er gealtert. Sein natürlicher Elan war dahin - dies hier war nur noch ein furchtbar schwacher alter Mann.
Ich eilte ihm nach, um ihn zu stützen. Eine Welle des Mitleids erfaßte mich. Ich sah mich selbst - dereinst alt, schwach und kaum imstande, mich aufrecht zu halten. Es war unerträglich.
Ich war den Tränen nah - nicht um Don Juans willen, sondern um meiner selbst. Ich hielt ihn am Arm und gelobte im stillen, für ihn zu sorgen, komme was wolle.
So überließ ich mich meinen Phantasien des Selbstmitleids - als ich einen betäubenden Schlag ins Gesicht erhielt. Bevor ich mich von meiner Überraschung erholen konnte, schlug Don Juan mich ein zweites Mal - diesmal in den Nacken. Er stand vor mir und bebte vor Wut. Sein Mund stand halb offen und zuckte krampfhaft. »Wer sind Sie?«, herrschte er mich mit gepreßter Stimme an.
Und dann wandte er sich an die Menge der Zuschauer, die zusammengeströmt war.
»Ich weiß nicht, wer dieser Mann ist«, sagte er zu ihnen. »Helft mir, bitte, ich bin ein einsamer alter Indianer. Er ist ein Ausländer, er will mich umbringen. So was machen sie mit hilflosen alten Leuten. Bringen sie einfach um - aus Spaß.«
Mißbilligendes Gemurmel wurde laut. Mehrere kräftige junge Männer warfen mir drohende Blicke zu.
»Was machst du da, Don Juan?« fragte ich mit lauter Stimme. Ich wollte die Menge überzeugen, daß wir zusammengehörten.
»Ich kenne Sie nicht!« brüllte Don Juan. »Lassen Sie mich in Ruhe!«
Und wieder bat er die Leute, ihm zu helfen. Sie sollten mich festhalten, bis die Polizei käme.
»Haltet ihn fest«, verlangte er. »Und bitte, jemand rufe die Polizei! Sie wird wissen, was mit diesem Mann zu tun ist.«
Ich sah mich bereits in einem mexikanischen Gefängnis. Niemand würde wissen, wo ich mich befand. Die Vorstellung, daß es Monate dauern mochte, bis jemand mein Verschwinden bemerkte, ließ mich heimtückisch und schnell reagieren. Ich versetzte dem ersten der jungen Männer, die mir den Weg verstellten, einen kräftigen Tritt - und rannte los. Ich wußte, ich rannte um mein Leben. Mehrere junge Männer rannten hinterher.
Während ich die Hauptstraße hinunterhetzte, wurde mir klar, daß es in einer kleinen Stadt wie Guaymas an jeder Straßenecke eine Polizeistreife gab. Noch war kein Uniformierter in Sicht. Aber bevor ich einem in die Arme lief, rettete ich mich in den erstbesten Kaufladen, der am Weg lag. Ich tat so, als suchte ich Souvenirs zu kaufen.
Der junge Mann, mein Verfolger, stürmte draußen unter lautem Geschrei vorüber. Rasch legte ich mir einen Plan zurecht. Ich wollte möglichst rasch viele Sachen einkaufen. Die Ladenbesitzer sollten mich für einen Touristen halten. Und dann wollte ich irgend jemanden bitten, mir behilflich zu sein und meine Pakete zum Auto zu tragen.
Ich ließ mir viel Zeit mit der Auswahl der Dinge, die ich zu kaufen gedachte. Dann bezahlte ich einen jungen Mann für das Tragen meiner Pakete. Aber als wir uns meinem Wagen näherten, sah ich, daß Don Juan noch immer von einer Menschenmenge umringt war. Er sprach hektisch auf einen Polizisten ein, der sich Notizen machte.
Ach, es war sinnlos. Mein Plan war gescheitert. Ich konnte unmöglich zu meinem Auto Vordringen. Ich bat den jungen Mann, meine Pakete auf dem Trottoir abzustellen. Ein Freund von mir, sagte ich, werde vorbeikommen und die Pakete in mein Hotel bringen. Der junge Mann entfernte sich, und ich blieb stehen - versteckt hinter dem Päckchen, das ich mir vor das Gesicht hielt. So war ich unsichtbar für Don Juan und die Leute um ihn.
Ich sah, wie der Polizist meine kalifornischen Nummernschilder kontrollierte. Jetzt war ich restlos überzeugt, daß ich verloren hatte. Allzu schwer wogen die Anschuldigungen dieses verrückten Alten. Und die Tatsache, daß ich fortgerannt war, würde jeden Polizisten von meiner Schuld überzeugen. Außerdem wollte ich diesen mexikanischen Beamten keine Gelegenheit bieten, einen Ausländer unter fadenscheinigem Vorwand ins Gefängnis zu werfen.
Fast eine Stunde lang versteckte ich mich in einem Hauseingang. Der Polizist schlenderte weiter, doch die Menschenmenge blieb um Don Juan versammelt. Noch immer fuchtelte er mit den Armen und plärrte anklagend vor
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