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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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mit diesem Teil von mir schaute ich mich jetzt um:
    Überall sah ich weites, urbares Land. Und dieser unsichere, lockere und sorgenvolle Teil meiner selbst war abwechselnd stolz auf den Arbeitsfleiß der Menschen und traurig über den Anblick dieser schönen alten Wüste von Sonora - jetzt überzogen von Ackerfurchen und ordentlich bestellten Feldern.
    Der alte, dunkle, schwere Teil meiner selbst machte sich deswegen keine Sorgen. Die beiden Teile gerieten in einen Disput. Der lockere Teil forderte, der schwere Teil solle sich Sorgen machen. Und der schwere Teil forderte, der andere solle endlich seine Sorgen vergessen und sich freuen.
    »Warum bist du stehengeblieben?« fragte Don Juan. Seine Stimme rief eine Reaktion in mir hervor. Aber ich könnte nicht sagen, daß ich es war, der reagierte. Der Klang seiner Stimme schien den lockeren Teil meiner selbst zu verfestigen. Und plötzlich war ich wieder ich selbst.
    Ich erzählte Don Juan von dieser Dualität, die ich in mir erkannt hatte. Er erklärte mir diese Dualität als Folge verschiedener Positionen meines Montagepunkts. Und während er sprach, verlor ich meine Festigkeit wieder. Der lockere Teil wurde so locker, wie er es vorhin gewesen war, als meine Dualität mir zum erstenmal bewußt wurde - und wieder verstand ich genau, was Don Juan mir erklärte.
    Wenn der Montagepunkt sich an den Platz ohne Erbarmen bewegt, so erklärte er, wird die Position der Vernunft und des gesunden Menschenverstands geschwächt. Als ich diese ältere, dunkle und stille Seite in mir entdeckte, so erklärte er mir, hätte ich eine Ahnung von den Vorläufern unserer heutigen Vernunft gespürt. »Ich verstehe ganz genau, was du meinst«, sagte ich zu ihm. »Ich weiß so vieles, aber ich kann es nicht aussprechen. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
    »Ich habe es dir schon früher einmal erklärt«, sagte er. »Was du jetzt als Dualität empfindest, ist die Ahnung einer anderen Position deines Montagepunkts. In dieser Position erspürst du die ältere Seite des Menschen. Und was diese ältere Seite weiß, bezeichnet man als stilles Wissen. Dieses Wissen kannst du vorläufig noch nicht aussprechen.«
    »Weil du dafür sehr viel Energie brauchst«, antwortete er. »Und im Augenblick hast du diese Energie nicht zur Verfügung. Wir alle haben dieses stille Wissen«, fuhr er fort. »Es ist ein Wissen, das umfassende Kenntnis von allem hat. Aber es kann nicht denken. Und darum kann es nicht aussprechen, was es weiß.
    Als der Mensch dieses Wissen erkannte und sich bewußt machen wollte, so glauben die Zauberer, da verlor er die Ahnung von alledem, was er wußte. Dieses stille Wissen, das du nicht aussprechen kannst, ist nichts anderes als die Absicht - der Geist, das Abstrakte. Der Mensch beging nur den Fehler, dies Wissen direkt erfahren zu wollen, wie er auch andere Dinge im Leben erfuhr. Je mehr er erfahren wollte, desto flüchtiger wurde das Wissen.« »Doch was bedeutet all dies, Don Juan?« fragte ich. »Kannst du es nicht mit einfachen Worten sagen?«
    »Es bedeutet, daß der Mensch auf das stille Wissen verzichtet hat, um die Vernunft zu gewinnen«, antwortete er. »Je stärker der Mensch sich an die Welt der Vernunft klammert, desto flüchtiger wird die Absicht.«
    Ich ließ den Motor an, und schweigend fuhren wir weiter. Don Juan gab mir keine Richtungsanweisungen mehr. Er tat dies oft nur, um mich zu provozieren. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich fuhr, aber ein Teil von mir wußte es. Diesem Teil überließ ich die Führung.
    Spät abends kamen wir zu dem großen Haus, das Don Juans Gruppe von Zauberern in einer ländlichen Gegend des Staates Sinaloa besaß, im Nordwesten Mexikos. Mir schien es, als habe die Fahrt kaum eine Sekunde gedauert. Ich konnte mich an nichts mehr erinnern. Ich wußte nur, daß wir nicht miteinander gesprochen hatten.
    Das Haus schien leer zu sein. Es gab auch kein Zeichen, daß hier Menschen lebten. Dennoch spürte ich ihre Gegenwart, ohne daß ich sie zu sehen brauchte.
    Don Juan zündete Kerosinlampen an, und wir setzten uns an einen massiven Tisch. Anscheinend schickte sich Don Juan zum Nachtmahl an. Ich überlegte noch immer, was ich tun oder sagen sollte, als eine Frau lautlos eintrat und einen großen Teller voll Speisen auf den Tisch stellte. Ich war nicht vorbereitet auf ihr Erscheinen, und als sie - wie aus dem Nichts auftauchend - aus dem Dunkel trat, hielt ich unwillkürlich den Atem an.
    »Keine Angst, ich bin's - Carmela«, sagte sie und

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