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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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mußte gestehen, ich hatte nicht weiter darauf geachtet. Ich dachte, wir machten nur Konversation, um uns die Langeweile der Fahrt zu vertreiben.
    »Ich mache niemals nur Konversation«, sagte Don Juan mit ernster Miene. »Das solltest du inzwischen wissen. Heute nachmittag habe ich sorgfältig die Situation vorbereitet, damit dein Montagepunkt sich in jene Position bewegen konnte, wo das Mitleid verschwindet. Diese Position nennen wir den Platz ohne Erbarmen.
    Nur eine Schwierigkeit gibt es, mit der die Zauberer fertig werden müssen«, fuhr er fort. »Der Platz ohne Erbarmen muß nämlich mit minimaler Hilfe von außen erreicht werden. Der Nagual kann die Situation vorbereiten, aber der Lehrling muß selbst seinen Montagepunkt in Bewegung bringen.
    Dies ist dir heute gelungen. Ich half dir - vielleicht in übertriebener Form -, indem ich meinen eigenen Montagepunkt in eine bestimmte Position bewegte, die mich in einen schwachen und unberechenbaren Greis verwandelte. Ich spielte nicht nur einen schwachen Alten. Ich war alt.«
    Das boshafte Funkeln in seinen Augen verriet mir, daß er den Augenblick genoß.
    »Dies alles war nicht unbedingt notwendig«, erklärte Don Juan. »Auch ohne harte Taktik hätte ich dich lehren können, deinen Montagepunkt zu bewegen. Aber die Chance war einfach unwiderstehlich. Dieser Moment wird niemals wiederkehren, und darum wollte ich sehen, ob ich so gut schauspielern könnte wie mein Wohltäter, der Nagual Julian. Glaube mir, ich war nicht weniger überrascht als du.«
    Ich war sehr erleichtert. Ich konnte ohne weiteres akzeptieren, was er mir sagte. Ich hatte keinerlei Fragen, denn ich verstand alles, ohne daß er es mir erklären mußte.
    Dann sagte er etwas, was ich schon wußte, aber nicht auszusprechen vermochte. Denn ich hätte niemals die richtigen Worte gefunden, um es zu beschreiben. Und zwar sagte er, daß alles, was die Zauberer tun, mittels einer Bewegung ihres Montagepunkts geschieht; und daß diese Bewegung durch das Quantum an Energie bestimmt ist, die dem Zauberer zur Verfügung steht.
    Dies alles wußte ich schon - und noch viel mehr. Ich sagte es Don Juan. Er aber erklärte mir, daß jeder Mensch in seinem Innern einen unermeßlich tiefen See stillen Wissens habe, und daß jeder diesen See stillen Wissens in sich ahne.
    Don Juan sah mich an und meinte, nach allen meinen Erfahrungen auf dem Wege der Krieger mußte diese Ahnung bei mir doch stärker ausgeprägt sein als beim Durchschnittsmenschen. Die Zauberer hingegen, so sagte er, könnten als einzige Lebewesen auf Erden über die Stufe der bloßen Ahnung hinausgehen. Sie strebten nach Transzendenz - und zwar in zwei Schritten: Erstens, indem sie sich die Existenz des Montagepunkts vorstellten. Und zweitens, indem sie ihren Montagepunkt in Bewegung setzten.
    Don Juan unterstrich noch einmal, daß das komplizierte Wissen der Zauberer nichts anderes sei als die Erkenntnis, welch unbegrenzte Möglichkeiten uns als wahrnehmende Lebewesen offenstehen. Die Zauberer wüßten, daß der Inhalt unserer Wahrnehmung durch die Position unseres Montagepunkts bestimmt werde.
    An diesem Punkt hatte ich Schwierigkeiten, mich auf seine Erläuterungen zu konzentrieren. Ich war weder abgelenkt noch müde. Aber meine Gedanken begannen ganz von selbst, seine Worte vorwegzunehmen. Mir war, als ob ein unbekannter Teil meiner selbst vergeblich bemüht sei, die richtigen Worte zu finden, um einen Gedanken auszusprechen. Und während Don Juan sprach, hatte ich das Gefühl, im voraus zu ahnen, wie er meine eigenen Gedanken aussprechen würde. Ich freute mich, daß er die Dinge stets mit besseren Worten ausdrückte, als es mir möglich gewesen wäre. Aber dieses Voraus-Ahnen seiner Worte schwächte auch meine Konzentration.
    Ich bremste plötzlich am Straßenrand. Und hier erkannte ich zum erstenmal in meinem Leben, daß eine Dualität in mir bestand. Es war, als gäbe es zwei getrennte Teile in mir. Der eine Teil war alt, sorglos und gleichgültig. Er war schwer und dunkel und hatte Verbindung mit allen anderen Dingen. Dieser Teil von mir war unbeschwert, weil er allen Dingen ebenbürtig war. Er erwartete nichts und freute sich an allem.
    Der andere Teil war leicht, neu, locker, erregt. Er war nervös und schnell. Er machte sich Sorgen, weil er unsicher war. Er konnte sich an nichts erfreuen, weil er nicht mit den anderen Dingen verbunden war. Er war allein, oberflächlich und verletzlich. Mit diesem Teil von mir betrachtete ich die Welt. Und

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