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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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köstlich.
    Nach dem Essen ging es mir ein wenig besser. Doch meine Situation war unverändert. Und meine Angst hatte nicht nachgelassen.
    Als Don Juan aufgegessen hatte, stieß er den Arm empor. Im nächsten Moment eilte der Kellner mit der Rechnung herbei. Ich bezahlte, und er half Don Juan auf die Beine. Am Arm führte er ihn aus dem Lokal. Er geleitete Don Juan sogar auf die Straße und sagte ihm herzlich Lebewohl.
    Den Weg zum Auto zockelten wir auf die gleiche, mühselige Weise - Don Juan schwer an meinem Arm hängend, keuchend und alle paar Schritte stehenbleibend, um nach Luft zu ringen. Der Kellner stand noch immer an der Tür, als wollte er sich überzeugen, daß ich Don Juan nicht aufs Pflaster stürzen ließ.
    Es dauerte etliche Minuten, bis Don Juan in den Wagen geklettert war.
    »Was kann ich für dich tun, Don Juan?« flehte ich.
    »Wende das Auto«, sagte er mit kaum hörbarer Stimme. »Fahre mich zum anderen Ende der Stadt - zu dem Laden. Man kennt mich dort. Es sind Freunde von mir.«
    Ich hatte keine Ahnung, von welchem Laden er sprach. Er murmelte sinnloses Zeug und bekam einen Wutanfall. Mit beiden Füßen stampfte er auf den Wagenboden. Er verzog den Mund und greinte und besabberte sein Hemd. Dann schien er einen klaren Moment zu haben. Ich wurde schon ganz nervös, während ich sah, wie er mühsam seine Gedanken zu ordnen versuchte. Endlich gelang es ihm, mir den Weg zu jenem Laden zu erklären.
    Meine Angst stieg ins Unermeßliche. Ich befürchtete, Don Juans Schlaganfall könnte schwerer gewesen sein, als ich zuerst angenommen hatte. Am liebsten wäre ich ihn rasch losgeworden - hätte ich ihn zu seiner Familie oder seinen Freunden gebracht. Aber ich wußte nicht, wer seine Freunde waren. Ich wußte einfach nicht, was ich machen sollte. Ich wendete das Auto und fuhr zu dem Laden, der sich am anderen Ende der Stadt befinden sollte. Ich dachte kurz daran, zu dem Lokal zurückzufahren und diesen eifrigen Kellner zu fragen, ob er etwas von Don Juans Familie wisse. Ich konnte nur hoffen, daß man ihn in dem Laden kannte. Je länger ich mir meine peinliche Lage ausmalte, desto mehr bedauerte ich mich selbst. Don Juan jedenfalls war am Ende. Ich hatte ein schreckliches Gefühl von Verlust und Verhängnis. Ja, er würde mir fehlen, dachte ich. Aber mein Schmerz über den Verlust wurde aufgewogen durch meine Wut darüber, ihn am Halse zu haben - ausgerechnet jetzt, wo es ihm so schlecht ging.
    Fast eine Stunde lang kreuzte ich durch die Stadt, auf der Suche nach diesem Laden. Ich fand ihn nicht. Don Juan gestand, er könne sich womöglich geirrt haben. Der Laden könne sich auch in einer anderen Stadt befinden. Ich war inzwischen völlig erschöpft und wußte überhaupt nicht mehr, was ich machen sollte.
    Wenn ich mich in meinem normalen Bewußtseinszustand befand, hatte ich stets das sonderbare Gefühl, mehr über Don Juan zu wissen, als logischerweise möglich war. Jetzt, unter dem Streß seines geistigen Verfalls, war ich mir sicher, daß seine Freunde irgendwo in Mexiko auf ihn warteten - auch wenn ich nicht wußte, warum ich mir so sicher war, oder wo ich seine Freunde suchen sollte. Meine Erschöpfung war eine mehr als körperliche. Es war eine Kombination von Angst- und Schuldgefühlen. Ich hatte Angst, für einen schwachen alten Mann verantwortlich zu sein, der - soviel ich wußte - todkrank sein mochte. Und ich hatte Schuldgefühle, weil ich so treulos gegen ihn war.
    Ich parkte mein Auto, nicht weit vom Meeresstrand. Don Juan brauchte fast zehn Minuten, um sich aus dem Wagen zu winden. Wir spazierten zum Meer - aber als wir näherkamen, scheute Don Juan plötzlich zurück, störrisch wie ein Maultier. Er weigerte sich, einen Schritt weiterzugehen. Das Wasser der Guaymas Bay mache ihm Angst, murmelte er.
    Er kehrte um und führte mich zu dem Platz in der Mitte der Stadt - einer staubigen Plaza, ohne Bänke. Don Juan setzte sich auf den Rinnstein. Ein Wagen der Straßenreinigung ratterte vorbei, mit kreisenden Bürsten, doch ohne Wasserstrahl. Die Staubwolke zwang mich zu husten.
    Meine Situation beunruhigte mich so sehr, daß ich auf die Idee verfiel, ihn einfach hier sitzen zu lassen. Ich schämte mich für diesen Gedanken und klopfte Don Juan den Rücken.
    »Nimm dich zusammen und sage mir, wohin ich dich bringen kann«, sagte ich sanft. »Wohin soll ich dich fahren?«
    »Du sollst zur Hölle fahren!« antwortete er mit brüchiger Stimme.
    Als ich dies hörte, beschlich mich der Verdacht,

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