Die Kreuzweg-Legende
Schritt und schaute zum Himmel hoch.
Sehr genau peilte sie den Mond an. Ein Gesicht sah sie nicht dahinter, nur dieses hellgelbe Rund und in seinem Innern die schwachen Schatten.
Wanda setzte sich wieder in Bewegung. Zwischen ihren Zehen klebte der Staub. Schon bald hatte sie das schützende Dach aus Ästen und Zweigen erreicht.
Sie ging fast bis an den Stamm, bevor sie dort stehenblieb und sich gegen die dicke Rinde lehnte.
An dieser Stelle wartete sie.
Wenn sie jetzt den Kopf in den Nacken legte und nach oben schaute, sah sie keinen Himmel mehr. Weder Sterne noch der Mond grüßten. Das dichte Laub der Krone nahm ihr die Sicht.
Nicht weit von dieser Stelle entfernt befanden sich die Wälder. Düster und geheimnisvoll. Auch über den Wald erzählte man sich gefährliche Geschichten. Die Eltern hatten es ihren Kindern verboten, die dunklen Wälder zu betreten. Im Sommer lauerten dort die Geister, und im Winter waren es die Wölfe, die der Hunger bis in die Nähe der Dörfer trieb, wo sie Vieh und manchmal auch Menschen rissen.
Allmählich hatte sich ihr Atem wieder beruhigt. Wanda fühlte, daß es ihr besser ging. Noch war ihre Haut erhitzt, lag der Schweiß wie eine zweite Schicht. Mit dem Handrücken putzte sie darüber hinweg. Dadurch verschmierte sie auch den Staub.
War sie überhaupt hübsch genug für den Reiter? Sie wollte es nicht so recht glauben und hätte sich gern am Bach gewaschen, bevor sie der Liebhaber in die Arme schloß.
Bis zum Bach war es einfach zu weit. So mußte sie ihn mit schmutzigem Gesicht erwarten.
Noch hörte sie nichts. Nur ihren eigenen Atem und hin und wieder das Rascheln des Laubs.
Urplötzlich war es soweit!
Wanda spannte sich, denn sie hatte das Geräusch vernommen. Es schien aus dem Himmel zu kommen und hörte sich dumpf und trommelnd an.
Hufschlag…
Das Mädchen wußte Bescheid. Sie hatte nicht umsonst den Ruf des Reiters vernommen.
Jetzt war er zu ihr auf dem Weg und würde sehr bald erscheinen, daran glaubte sie fest.
Er kam.
Wanda hatte sich vom Stamm gelöst, war einige Schritte vorgegangen, stand auf dem Weg und schaute nach rechts, da sie fest daran glaubte, daß der Reiter dort auftauchen würde.
Er kam auch.
Im fahlen Mondlicht war er schon aus großer Entfernung zu sehen. Wandas Herz begann zu trommeln, als sie ihn entdeckte. Er hockte wie angewachsen auf einem Pferd, hatte den Mond im Rücken und hob sich wie eine Figur vor dem Licht ab.
Ganz in Schwarz war er gekleidet, und schwarz wie der Reiter war auch dessen Pferd.
Die Hufe hämmerten auf den trockenen Boden. Sie wirbelten Staub hoch, der wie eine Wolke dicht hinter dem heranstürmenden Reiter klebte und sich erst später senkte.
Er bot ein unheimliches Bild. Seltsamerweise verspürte Wanda keine Angst. Nur fiebernde Erwartung. Sie dachte nicht mehr an ihr Zuhause, an die Eltern oder deren Warnungen. Die Macht des unheimlichen Reiters war über sie gekommen und hielt sie bannartig fest. Näher und näher kam er. Wurde größer, und Wanda bekam plötzlich ein Gefühl der Angst.
Sollte dieser Mann sie in der Nacht zur Frau machen, wie es ihr süßes Verlangen befahl?
Dann war er da!
Wanda gab einen leisen Schrei von sich, taumelte zurück und preßte ihre Hand auf den wogenden Busen, als der Reiter sein Pferd so hart zügelte, daß es auf die Hinterbeine stieg und die vorderen über den Kopf der wartenden Wanda schlugen.
Wider Erwarten ging alles glatt. Wanda war nicht getroffen, der Reiter bekam sein Tier unter Kontrolle und stieg aus dem ebenfalls schwarzen Sattel. Geschmeidig rutschte er nach unten. Sein langer Mantel flatterte. Auch er war schwarz, wie auch sein Wams, die Hose und die engen Reitstiefel. Von seinem Gesicht war nicht viel zu erkennen. Es lag im Schatten der Krempe eines großen Huts. Das Mädchen erkannte nur das Kinn.
Der Reiter kam näher. »Du hast auf mich gewartet?« fragte er.
»Ja, Herr.« Die Antwort klang leise. Wanda senkte beschämt den Kopf und hob die Schultern.
Sie hörte das leise Lachen des Mannes. Es vermischte sich mit dem Schnauben des Pferdes, und einen Augenblick später spürte sie seine erste Berührung.
Er hatte die Finger unter ihr Kinn gelegt. Durch den leichten Druck hob er den Kopf an, damit er in die Augen der jungen Wanda schauen konnte. Sie fühlte sich unter einem Bann stehend. Da berührte sie ein Fremder, und sie tat nichts dagegen, weil die Liebe sie lockte. Nicht einmal das Gesicht des Mannes hatte sie gesehen. Es blieb im Schatten
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