Leichenschrei
1
Emma wer?
Halb neun morgens – ich war spät dran. Meine Pumps klapperten auf dem Asphalt, genau wie Pennys Krallen. Sogar auf drei Beinen sprang sie noch vor mir her, wachsam und umsichtig wie immer. Die Tür zur Abteilung der Bostoner Rechtsmedizin schwang auf, und ich lief gegen eine Wand aus feuchter, heißer Luft.
»Mist!«, sagte ich.
Penny erstarrte, sofort auf der Hut.
»Schon gut, altes Mädchen.« Dabei war gar nichts gut. Die Klimaanlage im öffentlich zugänglichen Teil des Kummerladens – dazu gehörten die Büros des Programms für Trauerbewältigung von Massachusetts, die Crime Scene Services und die Lobby – war mal wieder kaputt.
Hinter den Kulissen, da, wo die Leichenbeschauer die Toten obduzieren, Körper geduldig in Kühlräumen warten und die Assistenten die Überreste geliebter Menschen für deren Angehörige präparieren, arbeitet die Klimaanlage immer bestens. Da wir vom MGAP, besagtem Programm für Trauerbewältigung, an diesem ungewöhnlich heißen Junitag aber nun einmal keine solche Klimaanlage hatten, konnte ich nur hoffen, dass meine Kollegen in einer außergewöhnlich toleranten Stimmung waren.
Nicht sehr wahrscheinlich.
Ich warf meinen Rucksack auf das Sofa in meinem Büro, zog den Deckel von meinem Eiskaffee von Dunkin’ Donuts und nahm einen Schluck. Um neun hatte ich die tägliche Besprechung beim Leichenbeschauer, um zehn eine Gruppensitzung mit Angehörigen von Mordopfern und – als Leiterin des MGAP – wie immer jede Menge Papierkram.
»Hoy, Tal«, rief Gert laut aus dem MGAP-Hauptbüro herüber. Auch nach all den Jahren, die ich mit Gert zusammenarbeitete, war der Brooklyner Akzent meiner Vertreterin keinen Deut weicher geworden, und auch ihre deftige Wortwahl kein bisschen neutraler. Das freute mich.
»War schon jemand wegen der Klimaanlage da?«, fragte ich.
»Machst du Witze?« Sie reichte mir einen Stapel Anrufnotizen. »Alle von gestern Nachmittag.«
»Am besten gleich verbrennen. Ist Kranak schon da?«
Sie nickte, und ihr platinblonder Pony wippte. »Mr Sergeant Miesepeter war früh dran. Seine Leute arbeiten an einem Fall, der ihm ganz schön aufstößt. Ich würde ihm aus dem Weg gehen.«
»Mach ich. Ich besänftige ihn später mit was zu essen.« Ich sah auf die Uhr. »Ich muss dann mal zum Neun-Uhr-Meeting. Um zehn sind keine Neuen dabei, oder?«
»Heute nicht.«
Ich verkrümelte mich wieder in mein Büro, wo ich den Stapel rosa Telefonnotizen durchging. Ich nippte an meinem Eiskaffee, während ich jede einzelne las.
Interview über den Schnitter. Weg damit. Talkshow, Schnitter. Weg. Buch über den Schnitter. Auch noch mit gruseligen Fotos. Weg.
Dieser verdammte Schnitter verfolgte mich noch immer auf mehr Arten, als mir lieb sein konnte. Vor einigen Monaten hatte ein Mörder in Boston sein Unwesen getrieben, hatte Körperteile außergewöhnlicher Frauen an sich gebracht und zerstörte Familien und gebrochene Herzen hinterlassen. Ich hatte dabei geholfen, diesen Schnitter zu stoppen, und jetzt waren die Medien hartnäckig an mir dran.
Sie wollten Interviews. Bettelten um meine Teilnahme an Talkshows. Hielten mir ihre Blitzlichter ins Gesicht, wenn sie Fotos von mir und den Menschen machten, die mir nahestanden. Sie wollten mich in dem Versuch, die »wahre« Geschichte ans Licht zu zerren, nicht in Ruhe lassen. Meinem Lover war das zu viel geworden, und jetzt waren wir wieder nur gute Freunde. Ich konnte ihm das nicht mal vorwerfen. Alles nur wegen des Schnitters.
Ich arbeitete mich durch zwei Dutzend solcher Anfragen bis zu den drei wirklich wichtigen Nachrichten durch. Eine stammte von einer jungen Frau, die ich vor zwei Jahren betreut hatte; ihr Mann war Opfer eines Mordes geworden. Die zweite war von einer Spendenorganisation, die darauf hoffte, dass das MGAP, das Massachusetts Grief Assistance Program, das ich gegründet hatte, um den Angehörigen von Mord-opfern beizustehen, sie mit Rat und Tat unterstützen werde. In den letzten Monaten aber hatte ich wenig Zeit und Energie für etwas anderes als das Betreuen trauernder Angehöriger gehabt.
Es gibt weniger als vierzig solcher Trauerberater in den Vereinigten Staaten. Die Trauerbegleitung muss es erst noch auf die Hitliste der Berufe schaffen. Mir aber gefällt diese Arbeit; sie gibt meinem Leben einen Sinn. Und ich bin stolz darauf, Mitglied dieser kleinen Gemeinschaft zu sein.
Penny klapperte mit ihrem Napf. Ich füllte ihn mit frischem Wasser auf – sie ist ganz schön eigen –
Weitere Kostenlose Bücher